Berlin. Deutsche Backwaren sind beliebt, aber auch umstritten – wegen der ausufernden Massenproduktion. Der Trend geht zur Nischenbäckerei.

In Sarah Wieners Backstube im Berliner Stadtteil Neukölln hat Walter Mayer das perfekte Brot gefunden: das Sonntagsbrot. Ein Weizenbrot mit 20-prozentigem Roggenanteil. Ein Brot, das dem Aushängeschild der legendären Pariser Bäckerei Poilâne nahekommt. Ein Brot mit saftiger Krume und ehrlicher Kruste. Ein Brot, das gleichzeitig speckig und rauchig schmeckt. Oder wie Buchautor Mayer sagt: „Ein Brot wie ein Händedruck. Ein Brot, das nach Abendwind riecht und eigentlich nach einem Bier verlangt.“

Zweieinhalb Jahre folgte Walter Mayer, der eigentlich Journalist ist, dem Duft des Brotes. Er ließ sich von Starköchin Sarah Wiener die Grundlagen des handwerklichen Backens erklären, porträtierte den Milliardenbäcker Heiner Kamps, fuhr zu Bäckern in die Berge nach Albanien und ins nebelverhangene Edinburgh, und er erinnerte sich an das Brot seines Großvaters, der seine Bäckerei Ende der 70er-Jahre schließen musste, als die ersten Supermärkte öffneten. Eigentlich sollte sein Buch „Brot“ (Insel-Verlag, 272 Seiten, 22 Euro) ja eine Liebeserklärung an sein „Laibgericht“ werden, sagt er. Doch vieles ernüchterte ihn bei seinen Recherchen, und so schreibt Mayer eben auch über die Industrialisierung der Natur, über Getreide, das mit Turbodünger und Enzymen gedopt wird, über 75 Meter lange, voll automatisierte Produktionsstraßen, die Zehntausende Brötchen innerhalb einer Stunde raushauen. Über tiefgefrorene Teiglinge, Glutenunverträglichkeit und Weizenwampenangst.

Drei von vier Broten

stammen aus der Industrie

Was ist seine Brotbilanz? Mayer sitzt in einem Café am Berliner Gendarmenmarkt, lehnt sich im weichen Ledersessel zurück und überlegt einen Moment. Dann sagt er: „Es gibt zwei Megatrends beim Thema Brot: Industrialisierung und Individualisierung.“ Auf der einen Seite stehe die industrielle Massenproduktion zum superbilligen Preis, auf der anderen Seite gebe es die Rückbesinnung auf handwerkliches Nischenbacken für naturnahe Geschmacks-erlebnisse. „Der Verbraucher kann sich das aussuchen.“ Für Mayer ist Brot ein Spiegel der Gesellschaft. Tatsächlich ist das Thema Brot in aller Munde. Berichte, Bücher und Studien beschäftigen sich mit Unverträglichkeiten, Zusatzstoffen, mit „guten“ und „schlechten“ Kohlenhydraten. Das Magazin „Stern“ stellte eine seiner jüngsten Ausgaben unter den Titel „Das Märchen vom guten deutschen Brot“ und degradierte auf zwölf Seiten das, worauf die Deutschen stolz sind, zum „Blendwerk“ – hergestellt in einer Welt voller Maschinen und Mittelchen. Das brachte dem Magazin zwar sofort einen öffentlichen Gift-und-Galle-Brief des Zentralverbands des Bäckerhandwerks ein. Doch selbst der Chefredakteur der „Allgemeinen Bäckerzeitung“, Arnulf Ramcke, schreibt in einem Kommentar über den „Stern“-Bericht: „Daneben liegt der Autor mit dieser recht dezidiert begründeten Sichtweise nicht.“ Tatsache sei doch, dass viele Bäcker überzeugt seien, nur durch Feintuning am Teig ein Brot backen zu können, dass der Verbraucher bereit sei, bei ihm zu kaufen – und dessen Herstellungsprozess aus Gründen der Wirtschaftlichkeit so kurz wie möglich getaktet wird.

Drei von vier Broten werden direkt oder indirekt bei industriell backenden Betrieben gekauft, resümiert auch der Geologe und Brotbackprofi Lutz Geißler, der für die Stiftung Warentest das Buch „Warenkunde Brot“ (208 Seiten, 19,90 Euro) verfasst hat. Kein Wunder,
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strömt die Backware doch mittlerweile überall ihren Duft: beim Traditionsbäcker, Filialisten, an der Tankstelle, im Fast-Food-Restaurant, beim Discounter oder SB-Bäcker, wo die Kunst darin liegt, einen gefrosteten Teigling aufzubacken. Dabei seien die Industrie-Brote aus dem Supermarkt nicht unbedingt schlechter, meint Geißler. „Sie haben manchmal geschmacklich mehr zu bieten. Sie enthalten im Vergleich zu Broten von handwerklich arbeitenden Bäckern allerdings auch mehr Zusatz- und Hilfsstoffe.“

Eigentlich lässt sich Brot ja auf drei Zutaten reduzieren: Mehl, Wasser und Salz, natürliche Mikroorganismen in Form von Sauerteig oder Hefe kommen hinzu, um das Brot zu lockern. Die wichtigsten Zutaten, da sind sich die Experten einig, sind Wissen und Erfahrung der Bäcker. Und: die Zeit, die der Teig braucht, um zu quellen, neu zu ruhen und zu reifen, um zu backen und auszukühlen.

Da diese Zeit aber in vielen Bäckereien fehlt, greifen sie auf fertige Backmischungen zurück. „Es gibt da alle Facetten“, sagt Armin Valet, Ernährungsexperte der Verbraucherzentrale Hamburg. Entweder, so Valet, werde nur ein bestimmter Anteil davon in den Teig gemischt oder es würden die fertigen Backmischungen angerührt und in den Ofen geschoben. Die Backmischungen beinhalten etwa biochemische Hilfsmittel, mit denen der Backvorgang abgekürzt wird. Zudem erlaubt eine EU-Verordnung 200 Zusatzstoffe zum Backen – darunter synthetisch erzeugte Enzyme, die Teiglauf-Zeiten verkürzen und Brötchen aufblähen, Emulgatoren wie Mono-Diglyceride von Speisefettsäuren (E471), die Frische vorgaukeln, oder das Mehlbehandlungsmittel Cystein (E920) bis hin zum konservierend wirkenden Natriumacetat (E262) .

Als gesundheitlich bedenklich gilt zwar keiner der Zusatzstoffe. „Prinzipiell sind wir aber kritisch, wenn viel Chemie in Lebensmitteln steckt, die dann nichts mehr mit dem Ursprung – in diesem Fall Brot – zu tun haben“, sagt Verbraucherschützer Valet. Insgesamt gilt: „Vollkorn wählen“, so heißt es in den zehn aktualisierten Regeln zur gesunden Ernährung bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Denn vor allem die Ballaststoffe aus Vollkorn ließen das Risiko für Diabetes, Stoffwechselstörungen, Dickdarmkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sinken.

Laut Statistik der Vereinigung Getreide-, Markt- und Ernährungsforschung (GMF) kommt bei 94 Prozent der Deutschen täglich Brot auf den Tisch – ganz oben stehen Vollkornprodukte. Leicht gestiegen ist die Nachfrage nach Dinkel- und Biobackware. GMF-Geschäftsführer Heiko Zentgraf rät, auch in Zeiten von Low-Carb nicht auf Brot und Brötchen zu verzichten. „Sie liefern uns wichtige Ballast- und Nährstoffe, die für Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden unentbehrlich sind.“ Da mache es keinen Unterschied, so Zentgraf, ob es sich nun um industrielle oder traditionelle Backwaren handele.

Deutsche Brotkultur ist Weltkulturerbe der Unesco

Die Vielfalt des gut 6000 Jahre alten Urnahrungsmittels ist in Deutschland immer noch einmalig. Seit 2014 ist die deutsche Brotkultur auch immaterielles Weltkulturerbe der Unesco. Das Brotregister des Zentralverbandes des Deutschen Bäckerhandwerks listet 3188 verschiedene Brotspezialitäten. Brotbackprofis wie Lutz Geißler sprechen allerdings von einer „scheinbaren Vielfalt“, wenn die immer gleichen Grundteige aus Backmischungen mit Chia-Samen oder Möhrenstiften aufgemotzt werden – und sich dann „Vital-Korn“ oder „Fitness-Kruste“ nennen.

Auf der anderen Seite sehnen sich immer mehr Menschen wieder nach „echtem“ Brot. Die Lust auf das Ursprüngliche lässt viele selbst backen oder führt sie auf die Suche nach traditionell arbeitenden Bäckern, die Wert auf Naturprodukte, Handfertigung und lange Teigführung legen. Brotjunkie Walter Mayer glaubt an das Gesetz des Geschmacks: „Wenn wir unserem Geschmack vertrauen, werden wir das Brot in seiner Vielfalt und Originalität retten.“