Werte. Ein Pfarrer und ein Ex-Fußballprofi erzählen, warum der Sonntag als Ruhetag für sie so wichtig ist. Der Handel würde die Öffnungszeiten am liebsten ausdehnen.

So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte (1. Mose 2,1-3 ).

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Thomas Capelle steht sonntags selten vor leeren Kirchenbänken. Wenn der Pfarrer erst in Hordorf, dann in Wendhausen predigt, kommen meist um die 30, beziehungsweise bis zu 70 Besucher zu den Gottesdiensten, Jugendliche, Familien, Rentner. In Zeiten, in denen viele Kirchengemeinden über schwindende Mitglieder klagen, eine beachtliche Zahl.

„Der Feiertag ist verordnet worden, damit wir Menschen innehalten und Gott suchen“, sagt Thomas Capelle – „damit wir uns ihm zuwenden und auf sein Wort hören – was natürlich im Gottesdienst geschieht.“ Der Segen der Gemeinschaft, ein Moment der Besinnung, aber auch das Nachdenken über gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme – in der Hektik eines von modernen Medien bestimmten Lebens suchen viele nach Entschleunigung. Und manchmal sind es ganz einfache Dinge, die große Wirkung zeigen: In Wendhausen beginnt der Gottesdienst erst um 10.45 Uhr – für Familien eine bessere Zeit, weil sie sich nicht hetzen müssen; kleine Kinder werden parallel betreut.

Wie auch Gott nach der Schöpfung den siebten Tag zum Erholen und Ausruhen erklärt hat, soll der Mensch gleiches tun. Du sollst den Feiertag heiligen – das geht auf das alttestamentliche Sabbat-Gebot zurück. Der Sabbat, der siebte Tag der Woche, ist ein wichtiger Tag der Juden, nach wie vor; ein Samstag, ein Tag der Ruhe und des Feierns. Für Christen ist das der Sonntag, eine Einladung zur gemeinschaftlichen Gottesverehrung und eine Einladung zur inneren Einkehr. „Wer sich von dem Gebot Gottes rufen lässt, erfährt auch den Wechsel von Arbeit und Ruhe als ein besonderes Geschenk“, sagt Capelle.

Ein Geschenk, ein Gebot, aber auch ein Naturgesetz – der 60-Jährige ist überzeugt, dass der Mensch auf den Wechsel von Spannung und Entspannung angelegt ist. An einem Sonntag zur Ruhe zu kommen, sei demzufolge hilfreich und heilsam auch für diejenigen, die gar nicht an Gott glauben. Wer sich eine Auszeit nimmt, kann sich danach gestärkt wieder ins Menschengetümmel werfen. „Wer nicht innehalten, durchatmen kann, betreibt eine Art Selbstausbeutung, ruiniert sich selbst – seelisch und körperlich.“

Capelle verweist auf die Erfahrungen in der ehemaligen Sowjetunion. Von 1929 bis 1940 war dort der Revolutionskalender in Gebrauch, der den christlichen Feiertag als Ruhetag abschaffte. „Man merkte bald, dass dies schädlich war für die Menschen“, sagt er. „Es hat das familiäre und soziale Leben so sehr beschädigt und nicht zur Steigerung der Wirtschaftskraft beigetragen, dass man bald wieder zur alten Feiertagsordnung, der 7-Tage-Woche zurückkehrte.“

Stille lässt sich sehr wohl verordnen, ist der Pfarrer überzeugt: Wenn am Sonntag die Geschäftswelt ruht, verlangsamt sich auch das Leben in einer Stadt. Es fahren weniger Autos, es gibt weniger Hektik, der Lärm wird gedämpft, als liege er unter einer Decke. „Wenn ich Urlaub habe und an einem Dienstag aus dem Fenster schaue, fühlt sich das anders an, als an einem Sonntag.“ Der Tag habe seine Würde. Doch die Sonntagsruhe werde zunehmend aufgelöst und den Bedürfnissen des Marktes angepasst.

Die Bedürfnisse des Marktes – das sind aus Sicht des Handels volle Innenstädte. Erst Anfang Oktober lockte Braunschweig Tausende Menschen zum verkaufsoffenen Sonntag in die Einkaufsmeilen; es gab Shows mit BMX-Fahrern, Skateboardern und Disc-Golfern, Hüpfburgen für Kinder und jede Menge „Schnäppchen“-Angebote für Shopping-Fans. In Vorsfelde war es eine Woche später auf dem „Schweinemarkt“ rappelvoll.

Bislang dürfen Geschäfte in Deutschland am Sonntag nur ausnahmsweise öffnen. Doch seit Jahren dringt der Handel darauf, die Regeln zu lockern. Führende Warenhausunternehmen haben in diesem Jahr die Initiative „Selbstbestimmter Sonntag“ gegründet, die eine Freigabe der Ladenöffnungszeiten fordert. Da Onlineshops durchgängig verkaufen könnten, sollten andere Geschäfte sonntags auch Kunden begrüßen dürfen, so das Argument.

Tatsächlich haben sich die verkaufsoffenen Sonntage auch in unserer Region zu Besuchermagneten entwickelt. 27 sind es in diesem Jahr; einer mehr als im Jahr zuvor. Die Städte locken mit Sport-, Spiele-, Genuss- oder Automeilen; für Familien werden die Innenstädte zum Ausflugsziel, Flanieren in der Fußgängerzone statt Spazieren im Park, Shoppen mit der Familie statt Ausflüge in die Natur. Konsum statt Einkehr?

Das Land Niedersachsen schreibt vor, dass es höchstens vier verkaufsoffene Sonntage pro Jahr und Ort geben sollen; in anerkannten Ausflugsorten dürfen es doppelt so viele sein, unter anderem in Wolfsburg oder Wolfenbüttel. Ein geplantes Gesetz der alten Landesregierung, wonach künftig auch fünf Shopping-Tage am Sonntag möglich sein könnten, hängt in der Pipeline. Gut möglich, dass mit einer neuen Regierung die Diskussion um eine weitere Öffnung wieder in Gang kommt.

Die Gewerkschaft Verdi warnt davor, „die Tür für einen weiteren Missbrauch der Sonntagsöffnung“ aufzustoßen – mit allen Folgen für die Verkäufer, für das soziale Leben, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie soll eine alleinerziehende Kassiererin ihr Kind betreuen, wenn Kitas am Wochenende geschlossen haben?

Einer kompletten Öffnung der Ladenöffnungszeiten stehen auch die Industrie- und Handelskammern skeptisch gegenüber. „Wir erkennen an, dass der Sonntag der Tag der Arbeitsruhe und der Tag des Gottesdienstes ist und einen besonderen Schutz genießt“, sagt Christian Scheffel, Handelsexperte der IHK Braunschweig. Der verkaufsoffene Sonntag sei zudem weniger reizvoll, wenn er seinen besonderen Charakter verliert.

Wie hoch der Wert des siebten Tages als kollektiver Ruhetag für die Menschen immer noch ist, zeigt die Erfahrung derer, die sonntags regelmäßig arbeiten müssen; Krankenpfleger, Ärzte, Polizisten, Rettungskräfte, Mitarbeiter in der Gastronomie und Unterhaltungsbranche – oder Profisportler.

Dennis Kruppke sitzt in seinem Büro im Nachwuchsleistungszentrum von Eintracht Braunschweig, von seinem Schreibtisch aus blickt er über die Trainingsplätze und damit gewissermaßen zurück auf ein Leben, das 17 Jahre lang von einem anderen Rhythmus bestimmt war: Als Fußballprofi hatte er keine freien Wochenenden, die Samstage und Sonntage waren gefüllt mit Training, Fahrten in Hotels, Vorbereitungen, Spielen – Woche für Woche, Jahr für Jahr. „Feiern, Geburtstage von Freunden oder Verwandten oder Ausflüge mit der Familie – auf all das zu verzichten, war für mich von klein auf Normalität“, sagt er.

Der 37-Jährige hat sich kontinuierlich nach oben gearbeitet, spielte in der Regionalliga, in der 2. Bundesliga und für Freiburg und Braunschweig schließlich auch in der Bundesliga; fast 200 Spiele hat er für die Eintracht seit 2008 absolviert, bevor er nach der Saison 2014/15 seine Profi-Karriere wegen eines Knorpelschadens im Knie beendete. Seitdem beschäftigt sich der langjährige Mannschaftskapitän in der Talentschmiede des Fußball-Zweitligisten mit der Nachwuchsarbeit. Er geht ins Büro statt auf den Fußballplatz, sitzt nun überwiegend am Schreibtisch, statt seinen Körper täglich auf Hochleistung zu trimmen. Damit erfährt er eine andere Art von Lebensqualität: geregelte Arbeitszeiten, planbare Freizeit, Entschleunigung statt permanente Geschwindigkeit.

Die privaten Interessen mit den Anforderungen der Arbeitswelt in Einklang, in ein ausgewogenes gesundes Gleichgewicht zu bringen – das ist Kruppke mit seiner neuen Aufgabe gelungen. „Am Anfang meiner Laufbahn hat mir nichts gefehlt, da konzentriert man sich auf seine Karriere, aber irgendwann verschieben sich die Prioritäten“, sagt der Ex-Fußballprofi. Irgendwann werden andere Werte wichtig – es zählt nicht nur der Teamgeist im Sport, nicht nur Kampfgeist und Stärke, sondern auch Entspannung, der Blick auf eigene Bedürfnisse, die Gemeinschaft in der Familie.

Kruppkes Kinder sind zehn und sechs Jahre alt; er genießt es, sonntags mit der Familie aufs Rad zu steigen, wenn das Wetter schön ist, Ausflüge zu machen, schlichtweg Zeit für sich und andere zu haben. „Sonntags hat kein Laden geöffnet, man muss nicht irgendwo hin hetzen, nichts erledigen“, sagt er. Im Nachwuchsleistungszentrum finden zwar auch Spiele statt, aber er muss nicht unbedingt vor Ort sein. „Sofern ich es schaffe, gehe ich ins Stadion und fiebere da natürlich mit den Jungs mit, aber ich kann jetzt auch mal abschalten. Das weiß ich inzwischen sehr zu schätzen.“ Das macht für ihn den Wert des siebten Tages aus.