Braunschweig. Schon zum vierten Mal ist der 63-jährige Udo Stolte mit der christlichen Hilfsorganisation „Shelter Now“ in den Nordirak gereist.

Unser Leser Sippan Halil fragt bei Facebook:

Wie ist die Lage im Nordirak? Gibt es dort eine Zukunft für die Jesiden?

Stolte reiste von Erbil nach Suleymaniya. Im Westen das Shingal-Gebirge.
Stolte reiste von Erbil nach Suleymaniya. Im Westen das Shingal-Gebirge.

Die Antwort recherchierte Tobias Feuerhahn

Schon zum vierten Mal ist der 63-jährige Udo Stolte in den Nordirak gereist. Mit der christlichen Hilfsorganisation „Shelter Now“ unterstützt er in provisorischen Flüchtlingslagern Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind – vor allem jesidische Flüchtlinge. Die Jesiden sind eine besonders verfolgte Gruppe. Mit Tobias Feuerhahn sprach Stolte über diese Probleme.

Was ist Ihre Aufgabe vor Ort?

Wir haben mit „Shelter Now“ einige Projekte dort. Im Nordirak machen wir nur Flüchtlingshilfe. Dort leben etliche Flüchtlinge aus Syrien und aus dem Rest-Irak, die vor dem IS geflohen sind.

Wie groß sind die Lager, die Sie betreuen?

Wir arbeiten bislang – und vielleicht auch dauerhaft – nicht in den großen, offiziellen Lagern im Nordirak. Wir arbeiten in den kleineren, inoffiziellen Camps. Dort betreuen wir dann 10 bis 20 Familien. Ich bereise fünf oder sechs dieser Camps. Dort leben Menschen, die doppelt gekniffen sind, weil sie zu den Jesiden gehören. Die sind religiös besonders verfolgt. Und die siedeln sich zum Beispiel in den Baracken verlassener Fabriken an.

Warum ist diese Gruppe denn besonders verfolgt?

Jesiden sind von den extremen aber auch von den weniger extremen Muslimen generell besonders verfolgt, weil sie keine Buchreligion sind. Das heißt, ihr Glaube basiert auf Überlieferungen. Die meisten von ihnen trauen sich deshalb nicht in die Obhut großer Lager, weil sie sogar dort Angst haben vor anderen muslimischen Flüchtlingen. Denn auch dort gibt es extremere, von denen ihnen Hass entgegenschlägt. Und eben weil Jesiden kein heiliges Buch haben, sind sie tatsächlich vogelfrei.

Unser Leser möchte wissen, ob die Jesiden eine Zukunft im Nordirak haben. Was meinen Sie?

Die Flüchtlinge, die hier sind und nicht nach Deutschland gehen, wollen unbedingt in ihre Heimat zurück. Die Jesiden, mit denen ich Kontakt habe, brannten schon bei meinem letzten Besuch darauf, zurück nach Hause zu gehen. Denn das Jesidengebiet ihrer Heimat im Shingal-Gebirge, dort kommen sehr viele Jesiden her, ist bereits wieder frei. Das haben die Peschmerga schon wieder freigekämpft. Das Problem ist: Wer weiß, was in ein paar Monaten ist? Der IS ist ja noch nicht besiegt. Daher ist das im Moment alles noch viel zu unklar.

Ist es nach einer Rückkehr denn möglich, dort angstfrei zu leben?

Es ist besonders in Gebieten schwierig, die nicht rein jesidisch sind. In der Shingal-Gegend sind sie aber weitestgehend unter sich.

Hilft Ihre Organisation nur in den Flüchtlingslagern vor Ort oder ist bei einer möglichen Rückkehr in die Heimatregionen auch Hilfe beim Wiederaufbau vorgesehen?

Auch eine Hilfe beim Wiederaufbau ist denkbar. Wir haben in dieser Hinsicht schon Erfahrungen mit Flüchtlingen in Pakistan gesammelt. Da haben wir damals auch Camps aufgebaut. Als diese Flüchtlinge dann zurück in Ihre Heimat nach Afghanistan wollten, haben sie uns gebeten, ihnen beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Dörfer in ihrer Heimat zu helfen. Wir haben dann dort Betonfabriken errichtet und die Männer in den Dörfern wurden angestellt und angelernt, das benötigte Material zu produzieren. Die haben dann schon ein Einkommen gehabt und konnten ihre eigenen Häuser wieder aufbauen. Drei dieser Fabriken laufen heute sogar immer noch. Wenn wir die Möglichkeiten dafür kriegen, könnten wir mit den Jesiden auch den Wiederaufbau starten.

Können Sie in etwa beschreiben, wie es Ihnen bei den Besuchen dieser Unterkünfte geht?

Das ist schon emotional. Für mich ist das natürlich etwas zwiespältig. Ich sehe die Not, kann dabei aber nicht in Tränen ausbrechen. Ich muss immer ruhig bleiben, um Entscheidungen treffen und helfen zu können. Das ist auch notwendig. Auf der anderen Seite will ich dabei auch nicht kalt werden.

Ist es überhaupt möglich, die Schicksale der geflohenen Menschen gänzlich auszublenden?

Wenn man mitbekommt, dass jesidische Eltern erzählen, dass sie einige ihrer Kinder verloren haben, ihr Ehemann oder Sohn erschossen und die jugendlichen Mädchen ihnen weggenommen und als Sexsklavinnen oder Landarbeiterinnen verkauft wurden – dann bleibt selbstverständlich kein Auge trocken. Diese Barriere der Nüchternheit ist dann nicht mehr da. Aber das trägt natürlich auch zur Motivation bei. Weil man Menschen mit so schlimmen Schicksalen helfen möchte und auch ihre Dankbarkeit spürt.

Woran mangelt es besonders?

Das beginnt mit Lebensmittelverteilung, Trinkwasserverteilung, im Sommer auch Kühlschränke, damit die Lebensmittel nicht verderben. Für den bevorstehenden Winter brauchen die Flüchtlinge besonders warme Kleidung, letztes Jahr haben wir Stiefel für Kinder verteilt, und auch Heizungen werden benötigt. Aber auch Dieselöl für Stromgeneratoren. Jetzt schaue ich mir dort auch die Trinkwasserverteilung an, die wollen wir nämlich verlängern. Gerade in den südlichen Bereichen des Nordiraks sind schon Cholerafälle aufgetreten. Deshalb versuchen wir, Wasserkanister mit Filtern zu verteilen, die Schmutz und Bakterien aus dem Wasser sammeln. Diese Filter sind so stark, dass sie sogar Wasser aus dem Abwasserkanal säubern könnten. Besonders mangelt es aber an der medizinischen Versorgung. Ich habe schon von mehreren Notfällen gehört. Ein Mann hatte zum Beispiel einen Schlaganfall, und keiner kümmerte sich darum. Der ist nun halbseitig gelähmt. Ein junges Mädchen brauchte eine Mandel-Operation. Im Nordirak ist das zu teuer, deshalb ist die Mutter mit ihrem Kind nach Damaskus gefahren – was natürlich extrem gefährlich ist. Medikamente sind für die meisten ohnehin zu teuer

Wie kann man da helfen?

Wir haben daran gedacht, eine mobile Klinik zu gestalten. Man könnte mit einem entsprechend umgerüsteten Wohnmobil von Camp zu Camp fahren und sich so um die Menschen kümmern.

Was bräuchte man dafür?

Das kommt darauf an, wie die mobile Klinik ausgestattet sein soll. Ich könnte mir vorstellen, dass man mit vielleicht 100 000 bis 150 000 Euro etwas in dieser Richtung machen könnte. Sinnvoll wäre es sicherlich, so etwas Schritt für Schritt voranzutreiben und zu erweitern, anstatt gleich im großen Stil anzufangen, was dann vielleicht nicht klappt. Bei Hauruck-Aktionen kann nämlich auch plötzlich das Geld weg sein.