Königslutter. Ob Nervosität, Depressionen, Schlafstörungen oder Burn-out: Diese Frauen zeigen Wege aus dem beruflichen und persönlichen Abseits auf.

„Jeder Mensch ist es wert, um ihn zu kämpfen.“ Christina Goedeke lässt da keinen Zweifel an ihrer kompromisslosen Einstellung. Eine steigende Zahl psychisch erkrankter Menschen hat keine Möglichkeit, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren. „Mit der Folge von Ausgrenzung und Isolation.“

Vor vier Jahren hat die heute 60-Jährige examinierte Krankenschwester eine Zusatzausbildung absolviert und leitet mittlerweile den Bereich „Zuverdienst“ bei der Lavie Reha gGmbH in Königslutter. Gemeinsam mit Heidrun Hoffmann kümmert sie sich um Menschen, die auf welche Weise auch immer ins berufliche und persönliche Abseits geraten sind. Eine Maxime ihrer Arbeit: „Inklusion bedeutet, keine Randgruppen zu akzeptieren.“

Diagnose „Psychische Erkrankung“ kommt immer hart und unerwartet

Alle Schützlinge dieses Projekts, das seit dreieinhalb Jahren existiert und von der Aktion Mensch gefördert wird, haben eines gemeinsam: Irgendwann waren sie den Anforderungen der Gesellschaft oder der Arbeitswelt nicht mehr gewachsen. „In unserer Leistungsgesellschaft ist vieles straff getaktet und wird immer schneller. Wir sollen eigentlich funktionieren wie ein Uhrwerk“, sagen die beiden Expertinnen. Kein Wunder also, dass es immer häufiger zu psychischen Problemen kommt, die sich erst zart andeuten, dann aber zu massiven Störungen führen. Dies äußert sich dann in Nervosität, Depressionen, Schlafstörungen, Burn-out und anderen psychischen Erkrankungen.

Jeder Mensch hat Glück und Zufriedenheit verdient. Dafür arbeiten wir.
Christina Goedeke, Leiterin des Bereichs „Zuverdienst“ bei der Lavie Reha gGmbH in Königslutter

„Ein solcher Schlag kann jeden treffen, und noch schlimmer: Die Betroffenen werden immer jünger.“ Das Lavie-Duo berichtet von einer Frau in verantwortlicher Position, die schon mit Mitte 30 aufgeben musste. „Die Diagnose ,Psychische Erkrankung‘ kommt immer hart und unerwartet.“

Abwärtsspirale kann bis in die soziale Isolation führen

Zusätzlich beginnt damit für viele eine Abwärtsspirale. „Das Selbstwertgefühl schwindet, die Betroffenen reduzieren ihre sozialen Kontakte, ziehen sich zurück, eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben findet kaum noch statt.“ Aber Menschen identifizieren sich häufig über ihre Arbeit. Sie können dann nicht mehr mitreden, fühlen sich ausgegrenzt. Denn Arbeit ist viel mehr als nur das Bestreiten des Lebensunterhalts. Sie gibt Tagesstruktur, stärkt das Selbstwertgefühl, fördert die Entwicklung sozialer Kontakte, verhindert das Abgleiten in soziale Isolation. Spätestens seit dem Lockdown während der Pandemie ist das jedem bewusst.

Das muss nicht sein. Denn sobald die Diagnose feststeht, kommt das Team „Zuverdienst“ ins Spiel – wobei dieser Begriff eigentlich nicht gut passt. Denn der finanzielle Aspekt steht bei dem Projekt erst an zweiter Stelle. Vielleicht wäre „Zuversicht“ besser: „In erster Linie wollen wir den Teilnehmenden wieder Selbstvertrauen und Handlungskompetenz zurückgeben“, erklärt Christina Goedeke. Durch eine neue Tagesstruktur und viele Kontaktmöglichkeiten sollen Isolation und Rückzug vermieden oder zurückgedreht werden. So können sich Teilnehmer in einem geschützten Rahmen ausprobieren und gegebenenfalls die Leistung steigern. Im Idealfall bis zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit.

Mit kleinen Schritten raus aus dem Rückzug

Das erfordert natürlich ganz kleine Schritte. „Der Zuverdienst gilt als therapeutische Maßnahme“, verdeutlicht Heidrun Hoffmann. Ihre Gruppe besteht aus Menschen zwischen 25 und 60 Jahren, die ganz behutsam wieder an Beschäftigung herangeführt werden. „Sie können an unseren Einsatzstellen von 3 bis maximal 15 Stunden pro Woche arbeiten. Dort werden sie von uns aufmerksam begleitet.“

Die Entlohnung hat mehr symbolischen Charakter, beträgt 1,50 Euro pro Stunde und wird hier ,Motivationszuwendung‘ genannt. „Man darf nicht vergessen, dass die Betroffenen bereits durch Sozialhilfe oder Rente versorgt werden.“

Die Einsatzstellen sind vielfältig und an die Möglichkeiten der Teilnehmer angepasst, selbst ein plötzlicher Ausfall der Beschäftigten ist nicht dramatisch. Zum Beispiel geht es in der Stadtbücherei um Sortierung und Archivierung, im Stadtarchiv um die Digitalisierung. In der Fahrradwerkstatt stehen Reinigung und Reparatur auf dem Programm, und im Stadtkindergarten geht es um Hilfe bei der Zubereitung von Mahlzeiten.

Wohnsitz im Landkreis Helmstedt ist Voraussetzung für Teilnahme am Projekt

Voraussetzung für die Aufnahme ins Projekt ist neben einer psychischen Erkrankung auch der Bezug einer Erwerbsminderungsrente oder Grundsicherung sowie der Wohnsitz im Landkreis Helmstedt.

Von den 15 genehmigten Plätzen des Programms sind derzeit 7 besetzt. „Die Zahl der Bedürftigen ist viel höher“, sagen die Expertinnen, „aber wir kommen schlecht an sie heran.“ Wer im Bekanntenkreis Betroffene kenne, solle bitte über das Angebot informieren. „Auch Betriebe, die eine Einsatzstelle einrichten wollen, können sich melden – wir helfen gern.“

Es gibt noch freie Plätze für Menschen, die Hilfe suchen

Die Erfolge des Lavie-Teams sind sichtbar. „Zu Beginn ist es für viele unserer Teilnehmenden hart, zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort zur Verfügung zu stehen.“ Doch in der Rückschau auf die vergangenen 3,5 Jahre sagt Christina Goedeke: „Wir sind stolz darauf, wie gut sich alle bei uns entwickelt haben.“ Und gerne fügt sie eine weitere Maxime an, mit der sie ihrer kompromisslosen Linie treu bleibt: „Jeder Mensch hat Glück und Zufriedenheit verdient. Dafür arbeiten wir.“

Kontakt: Lavie Reha gGmbH, Christina Goedeke, Telefon (05353) 9 87 97 90 oder per E-Mail an: christina.goedeke@lavie-reha.de

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