Stress im Job: Die Zahl der Berufstätigen mit psychischen Problemen steigt. Schuld daran ist nicht nur der erhöhte Arbeitsdruck in vielen Unternehmen.

Die Zahl der Berufstätigen mit psychischen Belastungen oder gar Erkrankungen steigt; ebenso der Zahl der Burn-out-Fälle. Knapp 100000 waren es laut AOK-Angaben allein 2010. Solche Nachrichten kann man seit Jahren hören und lesen. Und regelmäßig lautet die Begründung: Die Arbeitsbelastung in den Betrieben ist gestiegen.

"Das stimmt", bestätigt Stefan Bald, Geschäftsführer der Bruchsaler Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner. "In den meisten Betrieben geht es heute hektischer als früher zu." Doch greife es zu kurz, allein darin die Ursache für die gestiegene psychische Belastung vieler Arbeitnehmer zu sehen. "Unser gesamtes Leben hat sich verändert."

So werde heute etwa von den Menschen mehr Eigenverantwortung erwartet. Wir sollen für unser Alter vorsorgen. Wir sollen uns weiterbilden. Wir sollen auf unsere Gesundheit achten, und und und. Auch das trage dazu bei, dass die Belastung steigt.

Doch noch entscheidender sei: "Die Sozialstrukturen in unserer Gesellschaft haben sich verändert." Noch vor wenigen Jahrzehnten waren in Deutschland Familien mit drei, vier Kindern gang und gäbe. Und wenn der Nachwuchs erwachsen war und selbst eine Familie gründete? Dann geschah dies meist in der Nähe des Elternhauses. "Entsprechend groß war das familiäre Unterstützungssystem, aber auch der gewachsene Freundeskreis, auf den man sich zur Not stützen konnte", sagt Bald.

Und heute? In den Großstädten dominieren längst die Single-Haushalte – auch weil die (Liebes-)Beziehungen brüchiger geworden sind. Und die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie? Sie ist schon fast die Ausnahme. An ihre Stelle sind die Alleinerziehenden mit Kindern und Patchwork-Familien getreten. Und was wurde aus den Verwandten, auf die man im Bedarfsfall zurückgreifen kann? Die existieren vielfach nicht mehr. Oder wohnen Hunderte von Kilometern entfernt.

Auch dies erhöht den Druck, unter dem Berufstätige stehen. "Denn wegen der fehlenden Unterstützungssysteme werden oft schon Kleinigkeiten zu einem Problem, das Stress verursacht", sagt Angela Kissel vom Beratungsunternehmen Kissel Consulting in Urbar. Zum Beispiel das Paket, das abgeholt werden muss. Oder der angekündigte Besuch eines Handwerkers. Oder der pädagogische Tag im Kinderhort.

Auch Bernadette Imkamp, verantwortlich für das Gesundheitsmanagement bei der Bausparkasse Schwäbisch Hall, ist überzeugt: Die veränderte Arbeitswelt ist nur einer von vielen Faktoren, die dazu führen, dass heute mehr Berufstätige psychisch angespannt sind. Deshalb greifen aus ihrer Warte alle betrieblichen Work-Life-Balance-Konzepte zu kurz, die ihren Blick nur auf die Arbeitswelt richten.

Ihr Ausgangspunkt müsse vielmehr sein: Wie leben die Mitarbeiter heute und mit welchen Anforderungen sind sie aufgrund ihrer Lebenssituation konfrontiert? Dasselbe gilt für die Programme zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Dass vielen Berufstätigen ein soziales Unterstützungssystem fehlt, hält die Wiener Beraterin Sabine Prohaska für kein Problem – "aber nur, so lange im Leben alles glatt und rund läuft". Doch wehe, die Liebesbeziehung oder Ehe bricht auseinander. Oder der Lebenspartner erkrankt. Oder ein Elternteil wird zum Betreuungsfall. Dann geraten viele Berufstätige schnell an ihre Belastungsgrenze.

"Bei fast allen Burnout-Gefährdeten und -Geschädigten hat die Überlastung auch private oder persönliche Gründe", betont denn auch die Therapeutin Kissel. Nehmen wir den Vertriebler und Vater zweier Kinder, der in der Regel nur am Wochenende zuhause ist, weshalb es auch in seiner Ehe kriselt. In diesem Beispiel hat die Überforderung auch berufliche Gründe, aber nicht nur.

Diesen Zusammenhang haben viele Unternehmen erkannt – und überlegen, wie sie ihre Mitarbeiter entlasten können – zum Beispiel, wenn ein Elternteil zum Pflegefall wird. So gibt es etwa bei Schwäbisch Hall eine betriebliche Regelung, dass Mitarbeiter in solchen Situationen eine Auszeit von zwei Jahren und länger nehmen können. Auch die Weiterbildungsprogramme von großen Unternehmen gehen zunehmend über die üblichen Stressmanagement-Seminare hinaus.