Vielen Studenten leiden unter dem Leistungsdruck. Sind die Anforderungen zu hoch, oder sind die Studenten verweichlicht? Darüber streiten sich Fachleute.

Wie ein Häufchen Elend sitzt Hannah Funk* am Schreibtisch. Es ist sechs Uhr abends, und schon wieder hat die Anglistikstudentin den ganzen Tag lang keine einzige Zeile für ihre Hausarbeit in den Computer eingetippt.

"Es ist zum Verrücktwerden", sagt die 23-Jährige. "Ich habe alle nötigen Bücher um mich herum und könnte ganz leicht loslegen." Doch sie sehe nur einen riesigen Berg Arbeit vor sich und wisse nicht, wo sie anfangen soll. Je länger sie warte mit Lernen und Schreiben, desto panischer werde sie und desto weniger könne sie sich konzentrieren.

Hannah Funk ist kein Einzelfall. Petra Holler, Leiterin der psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerks München, kennt solche Geschichten nur zu gut. "Das Gefühl, vor lauter Leistungsdruck nicht lernen zu können, haben viele Studenten, die zu uns kommen." Bei einigen sei es so stark ausgeprägt, dass ans Studieren gar nicht mehr zu denken sei. Hauptgründe seien Angst vor Arbeitslosigkeit, selbst- und von der Wirtschaft auferlegter Leistungsdruck und daraus resultierende Prüfungsängste.

Nicht zuletzt sei es die Einführung der eher verschulten Bachelor-Studiengänge, die für extremen Druck bei den Studenten sorgten und mit dem diese nicht mehr zurechtkommen, sagt Holler. Die Bachelor-Studiengänge, die seit rund vier Jahren flächendeckend an deutschen Unis eingeführt werden, gaukeln laut Holler Sicherheit nur vor: Das Studium ist klar strukturiert, Kurse sind vorgegeben, Noten zählen vom ersten Semester an.

Doch das sei ein Trugschluss, ist Holler überzeugt. Zeit für Orientierung, Persönlichkeitsentwicklung, Praktika oder Auslandsaufenthalte bleibe kaum. Die Studenten bräuchten Freiräume, um sich selbst zu finden. Und um aus Fehlern und Misserfolgen zu lernen. "Die jungen Leute sind so auf Leistung getrimmt – das ist ein Weltuntergang, wenn sie mal durch eine Prüfung fallen."

Dabei gehörten solche Erfahrungen zum Reifeprozess eines Menschen dazu. Die Stärke einer Führungsperson sei es doch gerade, aus Fehlern zu lernen, findet Holler.

Die Zahlen, die Holler für ihr Studentenwerk vorlegt, sind alarmierend. In den letzten Jahren seien immer mehr Studenten in die Beratungsstelle gekommen. Waren es im Jahr 2000 noch 450, suchten voriges Jahr über 800 Studenten therapeutische Hilfe an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Das bedeutet gleichzeitig einen Anstieg um 20 Prozent zu 2007. Tendenz steigend, sagt Holler. Nicht eingerechnet seien die Studenten, die privat eine Therapie machten. Genaue Zahlen gebe es nicht, doch die Dunkelziffer sei hoch.

Eine Untersuchung der Techniker Krankenkasse für die Jahre 2006 und 2007 in Nordrhein-Westfalen hat ergeben, dass dort jeder dritte Student an Konzentrationsstörungen und Nervosität leidet, jeder vierte an Schlafstörungen und Kopfschmerzen.

Zudem würden Studenten in ganz Deutschland überdurchschnittlich oft wegen psychischer Krankheiten behandelt. Zehn Prozent aller rezeptpflichtigen Medikamente, die Hochschüler einnehmen, seien Antidepressiva – doppelt so viele wie bei gleichaltrigen Erwerbstätigen.

Genau mit solchen Patienten hat Peter Dogs, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in seiner Allgäuer Klinik täglich zu tun. 20 Prozent der Patienten seien Studenten, die mit dem immensen Leistungsdruck nicht zurechtkämen.

Der Arbeitsmarkt will junge, motivierte Menschen mit Auslands- und Berufserfahrung", sagt Dogs. Ein Scheitern sei bei solchen Anforderungen programmiert. Vor allem Jura-, Medizin- und BWL-Studenten, die sich im Dschungel der freien Wirtschaft nicht zurechtfänden, suchten bei ihm Rat.

Lehramtsstudenten mit einer Beamtenlaufbahn und gesicherten Karriere in Aussicht dagegen nicht. "Der Sprung von der Schule in die Uni ist einfach viel zu groß", glaubt Dogs. In der Schule noch behütet, seien Studenten mit freier Kurswahl und Selbstorganisation schlicht überfordert.

Ein Bachelor-Studium sei daher gar nicht so schlecht. Allerdings kritisiert Dogs auch die andere Seite: Vielleicht seien viele Studenten von der Schule und vom Elternhaus zu verweichlicht. "Wenn dann mal Gegenwind kommt, knicken viele ein."

Holler schlägt in die gleiche Kerbe. Sie wolle sich nicht ausmalen, was passiert, wenn solche Leute in Führungspositionen gelangten. Sie seien psychisch wenig belastbar und würden den hohen Leistungsanspruch an nachfolgende Generationen weitergeben.

Sie fordert daher, das Menschenbild grundlegend zu überdenken. "Die Wirtschaft gibt vor, wie der perfekte Arbeitnehmer zu sein hat." Bisher hätten wir uns vor allem auf ökonomische Parameter verlassen, Geisteswissenschaften spielten eine immer unbedeutendere Rolle, sagt Holler. "Doch wie verlässlich unser Wirtschaftssystem ist, sehen wir an der aktuellen Krise." epd

*Name geändert