Was zählt mehr für den weiteren Lebensweg: Abitur oder Lehre? Die vielbeschworene Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung steht seit langem zur Disposition – nicht erst seit dem jüngsten Beschluss der Kultusminister.

Die Gewerkschaften sprechen von "Kulturkampf" und fordern ein Machtwort der Ministerpräsidenten. Gleichermaßen sind die Wirtschaftsverbände entsetzt. Sie fürchten um den Ruf des "Flaggschiffs" der deutschen Bildung – das duale Ausbildungssystem mit betrieblicher Lehre und Berufsschule. Doch alle Drohungen und Appelle halfen nicht. Einstimmig beschlossen die Kultusminister in Berlin, das deutsche Abitur künftig auf Stufe fünf einer insgesamt achtstufigen EU-weiten Werteskala einzuordnen. Der Abschluss einer betrieblichen Lehre soll hingegen in der Regel nur auf Stufe vier rangieren.

Was ist das Abitur für einen jungen Menschen wert, wie schwer wiegt für den weiteren Lebensweg der Abschluss einer Lehre? In einer arg verquasten Erklärung beteuern die Kultusminister zwar, die Länder bestünden weiter "auf Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung". Doch nicht wenige Experten sehen hier seit Jahren eine der großen Lebenslügen der deutschen Bildungspolitik. Denn Lehre ist längst nicht mehr gleich Lehre. Es gibt hoch anerkannte dreieinhalbjährige neugeordnete Ausbildungen im Metall- und Elektrobereich – aber auch immer noch nicht reformierte Lehrberufe mit nur geringen Übernahmechancen und wenig Zukunftsperspektiven.

Im Vergleich ist das deutsche Abitur etwas Besonderes

Abitur ist auch nicht gleich Abitur, kontern die Verfechter der beruflichen Bildung und zeigen auf das unterschiedliche Leistungsgefälle zwischen Schulen und Bundesländern. Sie, wie die Anhänger der gymnasialen Bildung, befeuern damit einen bereits seit Jahrzehnten geführten Streit.

Doch in der Tat stellt das deutsche Abitur im internationalen Vergleich trotz Schulzeitverkürzung immer noch eine Besonderheit dar. Mit der Allgemeinen Hochschulreife wird zugleich das uneingeschränkte Recht zum Studium an einer Universität vergeben – ohne weitere Eingangsprüfungen, wie sie in vielen anderen Staaten üblich sind. Und gerade das, so heißt es aus der Kultusministerrunde, wollte man mit der höherwertigen Einordnung gegenüber den meisten Lehrberufen auch deutlich machen.

Aktueller Auslöser des Streits ist die Absicht der EU, mit einem "Europäischen Qualifikationsrahmen" die verschiedenartigen Bildungsabschlüsse in den Mitgliedstaaten vergleichbar zu machen. Zudem soll ein "Europäischer Bildungspass" mit der achtstufigen Skala berufliche Mobilität garantieren und gegenüber Arbeitgebern das erreichte Bildungsniveau dokumentieren.

Gewerkschaften sind empört über den Vorrang fürs Abi

Neun Staaten haben bereits nationale Regelungen in Kraft gesetzt, vier weitere werden bald folgen. Fast alle haben bisher Abitur und Lehre gleichwertig auf Stufe vier gesetzt – bis auf die Niederlande, die wie die deutschen Kultusminister die Stufe fünf für das Abitur bevorzugen. Österreich und die Schweiz gucken jetzt gespannt auf die Bundesrepublik. Geschickt haben sich die Franzosen aus der Affäre gezogen und schulische Abschlüsse in ihrer nationalen Werteskala zunächst einmal ausgespart.

Das Ansehen der beruflichen Bildung in Deutschland gilt international nach wie vor als gut. Doch ein Blick hinter die Kulissen offenbart auch Fehlentwicklungen. Jeder zweite Absolvent einer betrieblichen Lehre arbeitet fünf Jahre nach Gesellenabschluss heute in einem völlig anderen als den ursprünglich erlernten Beruf.

Doch statt die allgemeine Grundbildung für die jungen Menschen während ihrer Ausbildungszeit zu stärken, haben die Tarifpartner in den vergangenen Jahren immer neue, noch spezialisiertere Berufsbilder erfunden, kritisiert der Göttinger Sozialforscher Martin Baethge.

In einem gemeinsamen Brief drohen DGB-Chef Michael Sommer und Handwerkspräsident Otto Kentzler wegen der höheren Einstufung der Abiturienten der Kultusministerkonferenz die Aufkündigung der Zusammenarbeit an. Ihrerseits wollen die Kultusminister hingegen die Tür nicht zuschlagen. Zu ihrer nächsten Sitzung im Dezember haben sie die kampfbereiten Tarifpartner zum Gespräch eingeladen. dpa