Bundesarbeitsrichter krempeln die deutsche Tariflandschaft. Kleinere Gewerkschaften sind auf dem Vormarsch.

Das Beispiel Lufthansa könnte bald Schule machen. Europas größte Fluggesellschaft kämpft bei Konflikten mit Piloten, Flugbegleitern und Bodenpersonal gleich an mehreren Tariffronten. Kippt das Bundesarbeitsgericht in Erfurt wie beabsichtigt den Grundsatz der Tarifeinheit, wären künftig mehrere Tarife in einem Unternehmen nicht mehr die Ausnahme, sondern wahrscheinlich die Regel.

Das bisherige Prinzip "Ein Betrieb – ein Tarifvertrag" hätte dann endgültig ausgedient. Die DGB-Gewerkschaften müssten mit härterer Konkurrenz durch kleine Spartenorganisationen rechnen, viele Arbeitgeber wiederum befürchten Dauerstreiks.

Die Tarifeinheit, wie sie bisher meist praktiziert wird, soll garantieren, dass es in einem Unternehmen nicht zahllose Verträge verschiedener Gewerkschaften nebeneinander gibt. Ist ein Arbeitgeber an mehrere Vereinbarungen gebunden, verdrängt die speziellere Abmachung die allgemeineren.

Das führt beispielsweise zum Vorrang des Firmentarifs vor dem der Branche. Dieses Vorgehen hat aber einen Haken: Es benachteiligt kleinere Gewerkschaften. Das sieht auch der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts im Fall des Marburger Bundes so und kündigt die Abkehr von seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung an.

Die Entscheidung mit dem Aktenzeichen 4 AZR 549/08 (A) steht allerdings noch unter Vorbehalt, weil sie von der bisherigen Rechtsprechung des Zehnten Senats abweicht. Dieser muss noch zustimmen, was durchaus realistisch scheint.

Ein endgültiges Urteil wird in den nächsten Monaten erwartet. Vollziehen die obersten Arbeitsrichter die Wende, käme das einer Liberalisierung gleich, sagt BAG-Sprecher Christoph Schmitz-Scholemann. Ohnehin werde in der Praxis der Grundsatz der Tarifeinheit bereits ausgehebelt.

Bei der Deutschen Bahn oder der Lufthansa sitzen schon heute Spartenvertretungen wie die Lokführergewerkschaft oder die Vereinigung Cockpit mit am Verhandlungstisch. Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund hatte sich 2005 aus dem Tarifverbund mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi verabschiedet und verhandelt seither in eigener Regie.

"Wir haben dafür gekämpft, dass Ärzte eigenständige, arztspezifische Tarifverträge bekommen, die der Realität in den Kliniken entsprechen", sagt der Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke.

Die großen Tarifparteien fürchten ein wachsendes Heer kleiner Berufsgruppengewerkschaften. Die IG Metall etwa sieht neben vielen ungelösten Fragen "Verwerfungen im System", die Arbeitgeber warnen gar vor englischen Verhältnissen. "Die hatten in den 1970er Jahren Gewerkschaften für jeden und alles", sagt der Leiter der Abteilung Arbeitsrecht der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Roland Wolf, beunruhigt. "Es besteht das Risiko, dass immer mehr Spartenorganisationen versuchen, ihre Gruppeninteressen gegen die Gesamtbelegschaft durchzusetzen."

Das könnte dazu führen, dass Unternehmen permanent mit Streikdrohungen überzogen werden. Der Arbeitgeberverband will daher prüfen, ob die Tarifeinheit gesetzlich festgeschrieben werden kann.

"Arbeitgeber haben es bei Tarifauseinandersetzungen künftig schwerer", ist auch der Arbeitsrechtler an der Jenaer Schiller-Universität, Christian Fischer, überzeugt. Dennoch hält er einen Schwenk in der Rechtsprechung für überfällig.

"Es wird praktische Schwierigkeiten geben, die muss man aber schultern", sagt Schiller. Neben den arbeitskampfrechtlichen Folgen seien mehrere Tarifverträge in einem Betrieb auch aufwendiger zu handhaben – und kostenträchtiger.

Verdi-Chefjurist Helmut Platow erwartet, dass sich wieder mehr Tarifgemeinschaften bilden. Nur gemeinsam könnten die Gewerkschaften gerechtere Arbeitsverhältnisse durchsetzen.

"Wer sich zu sehr entsolidarisiert, wird auf Dauer keinen Rückhalt in der Gesellschaft finden." Selbstbewusst gibt sich die IG Metall: "Wir müssen unsere Tarifverträge so attraktiv gestalten, dass sich alle Beschäftigtengruppen darin wiederfinden", sagt die Tarifexpertin für den Bezirk Frankfurt, Silke Nötzel. dpa