Das Bundesarbeitsgericht hat die Rechte von langfristig kranken Arbeitnehmern gestärkt. Damit hat es den Kranken womöglich einen Bärendienst erwiesen.

Oft befasst sich das Bundesarbeitsgericht mit Themen, die Außenstehenden recht exotisch erscheinen, zum Beispiel mit dem Sonderkündigungsschutz für Abfallbeauftragte. Manchmal geht es aber auch um Urteile mit weit reichenden Folgen, die fast jeden einmal betreffen können. Ein solches Urteil hat das hohe Gericht Ende März gesprochen.

Der Kern des Urteils: Wer in seinem Betrieb krankheitsbedingt so lange ausfällt, dass er ein ganzes Jahr nicht arbeiten kann, hat für dieses Jahr trotzdem einen Anspruch auf Urlaub. Das gilt sogar dann, wenn ein Arbeitnehmer nach langer Krankheit überhaupt nicht mehr in den Betrieb zurückkehrt.

"Damit hat das Bundesarbeitsgericht Arbeitnehmern nicht unbedingt einen Gefallen getan", sagt Elke Fasterding, Rechtsanwältin beim Arbeitgeberverband Region Braunschweig. Denn was auf den ersten Blick arbeitnehmerfreundlich aussieht, könnte auch nach hinten losgehen: "Bisher sind die meisten Arbeitgeber davor zurückgeschreckt, Kündigungen wegen langfristiger Krankheit auszusprechen – wer krank ist, ist ja schon genug gestraft."

Große Unternehmen rechnen mit hohen Kosten

Nach dem jüngsten Urteil aber müssten sich Arbeitgeber darauf gefasst machen, dass sie Langzeitkranken nach deren Genesung entweder viele Urlaubstage schulden – oder den Gegenwert der Urlaubstage in Geld.

Für große Unternehmen kann das teuer werden. Wer Zehntausende von Arbeitnehmern beschäftigt, kommt leicht auf mehrere Hundert langfristig erkrankte Mitarbeiter.

Müsste der Arbeitgeber denen für jedes Jahr einer mehrjährigen Erkrankung ein volles Monatsgehalt zahlen – und darauf laufen die gesetzlich vorgeschriebenen vier Wochen Urlaubsanspruch hinaus – dann müssten die potenziellen Ansprüche auf einen Schlag als Verbindlichkeiten in die Bilanzen geschrieben werden.

Fasterding fasst zusammen: "Diese Rechtsprechung könnte dazu führen, dass Arbeitgeber mehr krankheitsbedingte Kündigungen aussprechen, denn sie müssen sich ja einstellen auf entsprechende Forderungen ihrer langfristig erkrankten Beschäftigten – und die damit verbundenen Mehrkosten."

Lange waren sich deutsche Richter und Arbeitsrechts-Experten einig: Wer krank zu Hause im Bett liegt, muss zwar nicht arbeiten. Er erholt sich aber auch nicht unbedingt. Deshalb dürfen Krankheitstage nicht vom Jahresurlaub abgezogen werden.

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts geht aber über diese Regelung hinaus. Grundsätzlich galt im deutschen Arbeitsrecht: Arbeitnehmer müssen ihren Urlaub im aktuellen Kalenderjahr nehmen. Ausnahmsweise dürfen sie Urlaubstage auch mit ins Folgejahr nehmen. Werden sie dann aber bis zum 31. März nicht in Anspruch genommen, verfallen sie.

Neuregelung gilt nicht nur ab sofort, sondern rückwirkend

Auslöser für die geänderte Rechtsprechung des höchsten deutschen Arbeitsgerichts ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Januar dieses Jahres. Dieses besagt: Der gesetzlich vorgeschriebene Mindesturlaub darf nicht eingeschränkt werden – auch dann nicht, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. Und das eben ist der Fall, wenn er die ganze Zeit krankgeschrieben ist.

Elke Fasterding vom Arbeitgeberverband sagt: "Seit den 80er Jahren galt eine andere Rechtsprechung – deshalb haben sich auch Arbeitgeber nicht mit Rückstellungen gegen spätere Urlaubsansprüche von Langzeiterkrankten abgesichert."

Besonders stört die Arbeitgeber der sogenannte Vertrauensschutz. "Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts gilt nicht nur für die Zukunft – sondern rückwirkend für alle Fälle seit August 2006", sagt Fasterding. Arbeitgeber erhalten damit einen Anreiz, sich schneller von Langzeitkranken zu trennen. "Dies ist in sozialpolitischer Hinsicht sicherlich nicht die beabsichtigte Wirkung der Rechtsprechung gewesen."