Braunschweig. In diesen Tagen gibt es kein Entrinnen mehr: Das Oktoberfest hat auch unsere Region fest in der Hand. Warum sind Dirndl und Lederhosen so populär?

Unser Leser, der sich auf unseren Facebook-Seiten Matthias Trunk nennt, sagt:

Das Oktoberfest hier ist keine gewachsene Kultur, sondern reines Marketing. Es gibt nur eine Wiesn.

Die Antwort recherchierte Geraldine Oetken

„Das Dirndl avancierte zu einem Modekleid. Es hat das angestaubte Image abgeschüttelt.
„Das Dirndl avancierte zu einem Modekleid. Es hat das angestaubte Image abgeschüttelt. © Kathrin Hollmer, Autorin und Journalistin aus München

Es geht, wie so häufig, um das Bild. Das exemplarische Bild einer Frau, vielleicht schön, vielleicht jung, die leicht und ohne Anstrengung eine schwere Maß Bier an ihre Lippen hebt. Sie lacht herzlich, das Dekolleté in dem einschnürenden, dafür aber wahnsinnig schmeichelhaften Dirndl wogt.

Das Bild wird vom Münchner Oktoberfest gesendet. Dieses Jahr seit dem 17. September und wie seit Jahrzehnten. Die Bundesrepublik, ach was die ganze Welt, ist auf Empfangsstation geschaltet. Unser Leser findet, dass das Oktoberfest-Brimborium in unserer Region schlichtweg eine Marktstrategie sei. Wir sehen ja auch seit ein paar Jahren vermehrt in den Festzelten Lederhosenbeine auf Bierbänke klatschen. Die Oktoberfeste stampfen sich selbst im 4/4-Takt aus dem Boden, von Salzgitter bis Helmstedt, von Gifhorn bis Wolfenbüttel.

Um das Partyvolk in bayrisch-bierfreudige Stimmung zu bringen, reichen oft ein paar Worte. Zum Beispiel Servus. Das Oktoberfest ist ein Fest der Eingeweihten von angeeigneten Traditionen. Wann der Fassanstich ist. Wo das Apostroph bei „O’zapft is“ hinkommt. Wo die Schleife beim Dirndl hingebunden wird. Erstlingen sei verraten: Je später der Abend, desto unwichtiger werden die ansonsten heiß diskutierten Fragen. Nach „oans, zwoa, g’suffa“ lassen die Anstoßenden irgendwann die Aufzählung einfach weg. Und das Fest bekommt einen blau-weiß-karierten Stich.

Das Original-Oktoberfest, nicht das Abziehbild, erlebt Kathrin Hollmer jährlich vor ihrer Haustür. Sie ist Münchnerin, Journalistin und hat so viel von jenem „O’zapft is“ gesehen, dass sie das „Dirndl-Buch“ zusammen mit ihrer Tante geschrieben hat. „Seit 2000 hat sich die Münchner Wiesn als globales Event inszeniert“, sagt sie. „Die daraus entstandene Bildermacht wurde weltweit wahrgenommen.“

Seit 15 Jahren kommt der Trupp der Oktoberfest-Eingeschworenen nicht mehr nur aus München. Das hat mit den von Hollmer erwähnten Hochglanz-Dirndl-Bildern zu tun, aber auch mit günstigen Angeboten. Modeketten bieten saisonal und vor allem günstig Beschürztes und Besticktes an und haben der bayrischen Eigenart zum bundesweiten Hype verholfen. Es geht um Regionalstolz, zwar nicht unbedingt um den Eigenen, aber immerhin.

„Wir beobachten seit längerem eine Hinwendung zur Heimat und zum Traditionellen“, sagt Helen Rad, Braunschweigerin und Sprecherin von Tchibo, jenem Kaffeehändler, der im September neben Tupperdosen und Tischdekoration gern Krachlederne und Dirndl verkauft. Tchibo bringt seit 2010 die Tracht bundesweit auf den Markt. C&A ist bereits in den 90er Jahren ins Trachtengeschäft eingestiegen, erst einmal lokal im Süden dann im ganzen Land. Alle beiden Händler sagen, wie stark und stetig der Markt gewachsen sei. Doch, auch wenn noch keine Sättigung erreicht sei, wachse er nun langsamer. Dirndl und Lederhosen sind, zumindest saisonal, in der Gesellschaft angekommen.

Die bayrische Kultur dient als Projektionsfläche für das, was wir im Norden als romantisch, für ländlich oder heimelig erachten. Und das Thema Bayern funktioniert anscheinend besser als das Thema Niedersachsen.

Schon in den 20er Jahren hat man sich gesagt: Raus aufs Land. Und hat als Stadtbewohner mit dem neu entwickelten Dirndl Bäuerin und Magd gespielt. Die Sommerfrische, das Versprechen von Natürlichkeit halfen damals wie heute gegen eine rasend schneller werdende Welt. Und die bayrische Ersatz-Identität funktioniert da für den Abend ganz gut.

Denn Heimat klingt immer gut. Wer Heimat sagt, der schiebt die Globalisierung gedanklich weit weg. Heimat wird zum Orientierungspunkt in dieser gehetzten Welt. Oder halt auch nicht.

Für manche, wie unser Leser es bereits angedeutet hat, bedeutet das Oktoberfest keiner tiefgründigen Identitäten-Suche, sondern einfach eine gute Feierlaune. Denn die Wiesn hat alles, was eine gute Motto-Party braucht: Klamotten, Deko, Musik, Essen, Getränke und Extra-Schmankerl. Das bayrische Partyprotokoll steht wie der Zuckerguss auf Lebkuchenherz geschmiert. Auch die alkoholisierte Enthemmung ist praktischerweise eingeplant. Wie gesagt: „oans, zwoa, g’suffa“. Der traditionelle Fassanstich ist schließlich nicht ohne Grund die Eröffnungs-Zeremonie.

Eric Wichmann hat mit seinem Kumpel David Bödecker in diesem Jahr (oder wie der Bayer sagt: heuer) in Gifhorn das Oktoberfest auf die Beine gestellt. „Die Wiesn ist halt nicht so steif wie andere Motto-Partys. Man ist verkleidet, aber trotzdem nicht einer Rolle versteckt,“ sagt Wichmann. Auch er findet: Das Oktoberfest sei angekommen in der Gesellschaft. Lederhosen und Dirndl haben sich mit einer ordentlichen Bierdusche vom Staub befreit und sind zum Massenphänomen geworden, gerade für junge Leute geworden. „Meine Tante trägt selbst kein Dirndl, sie musste das als Kind immer. Ihre Generation wollte sich von der Tracht distanzieren“, sagt die Münchner Journalistin Hollmer. „Ich hatte da viel weniger Berührungsängste“, sagt die 28-jährige und berät auch gleich zur Stilwahl: Dieses Jahr sei das Vintage-Dirndl wieder gefragt.

„Ein Dirndl ist keine traditionelle Tracht“, sagt eine, die es wissen muss: Manuela Kretschmer, Vorsitzende des Niedersächsischen Landestrachtenverbandes. Die Tracht hingegen sei eine Art Zeitkapsel, die den Träger zurück ins 19. Jahrhundert bringt. „Wenn ich jemanden in der Tracht sehe, weiß ich, ob er verheiratet ist oder ledig. Oder wie viel Geld er hat“, sagt Kretschmer. Beim Dirndl gehe es ja nur um Ästhetik. Die Codes seien hinfortgewischt worden. Wo die Tracht Ordnung und Hierarchie herstellt, symbolisieren Dirndl und Lederhosen Sorglosigkeit und die einfache, pseudo-ländliche Welt.

EINIGE OKTOBERFESTE

In Osterode hat die Feuerwehr am 1. Oktober ins Feuerwehrhaus zum Oktoberfest geladen.

In Wolfenbüttel wird auf direkt in der Stadt dem Schlossplatz am 1. Oktober „O’zapft is“ gerufen.

In Cremlingen wird der Abend am 1. Oktober in der Mehrzweckhalle bayrisch.

In Braunschweig gibt es gleich zwei Gründe das Dirndl anzuziehen: in der Millenium-Halle am 7. und 8. Oktober sowie auf dem Rummel bei der Oktobermesse auf dem Schützenplatz bis zum 4. Oktober.

In Jembke wird die Wiesnim Schützenverein am 14. und 15. Oktober gefeiert.