Wolfsburg. Wolfsburg ist die Dschihadisten-Hauptstadt Niedersachsens. Zwei Syrien-Rückkehrer stehen in Celle vor Gericht.

Als die Celler Richter Anfang Dezember 2015 im ersten niedersächsischen IS-Prozess ihr Urteil verkündeten, wirkten die Wolfsburger Ayoub B. (27) und Ebrahim H. B. gelassen – B. freute sich sogar. Beide wurden zwar für schuldig befunden, im Sommer 2014 Mitglieder in der Terrorvereinigung gewesen zu sein. Mit Haftstrafen von vier Jahren und drei Monaten beziehungsweise drei Jahren zeigte sich die Kammer aber gnädig.

Ein Signal an deutsche IS-Kämpfer, die möglicherweise ebenfalls vor der Rückkehr stehen und ihre Verhaftung befürchten müssen, ging bei diesem Prozess höchstens von einem Punkt aus: nämlich, dass man am besten über alle verübten Taten unter dem schwarzen Banner des IS schweigt. Hätten dies B. sowie H. B. nach ihrer Rückkehr nach Deutschland beherzigt, wären sie womöglich heute schon wieder auf freiem Fuß, so wenig Beweise hatten die Ermittler gegen sie in der Hand.

Das tatsächliche Ausmaß der Ausreisewelle der Dschihadisten, die Ende 2013/Anfang 2014 begann und an der bis heute – mindestens – 23 Personen teilnahmen, wurde den Sicherheitsbehörden offenbar erst klar, als all die Wolfsburger längst in Syrien waren und mit ihren Kalaschnikows vor IS-Fahnen für Facebook-Fotos posierten.

Wer den Sicherheitsbehörden pauschal Versagen unterstellt, macht es sich zu einfach: Wurde zum Beispiel noch als Folge des NSU-Komplexes über die Auflösung des Verfassungsschutzes debattiert, wird heute alle Hoffnung in die Arbeit der Geheimdienstler gesetzt, die Deutschland vor einem Terroranschlag wie in Paris bewahren mögen.

In dem Zusammenhang muss man festhalten, dass das Thema der Syrien-Reisenden lange vor den Ermittlern den Wolfsburger Muslimen bekannt war. Über die IS-Kämpfer wurde auf der Straße, in den Moscheen oder beim Döner-Mann gesprochen. Bezeichnend ist, dass die Stadtverwaltung von den Dschihadisten nicht etwa durch ihre Sozialarbeiter Kenntnis erlangte, sondern erst im Gespräch einer Stadträtin mit ihrer Friseurin. Gegenüber den Ermittlern versuchten die Muslime das Problem sogar abzuwiegeln – wohl aus der Angst heraus, dass man ihre Religionsgemeinschaft insgesamt an den Pranger stellen könnte.

Gleichwohl stellt sich die Frage, wie es geschehen konnte, dass unter dem Radar von Polizei, LKA und Verfassungsschutz ein derart radikales Milieu entstehen konnte und solange unentdeckt blieb. Die Syrien-Kämpfer sind schließlich nicht die ersten Islamisten aus der VW-Hauptstadt, die Schlagzeilen schrieben.

Da ist zum Beispiel die Familie T.. Im Juli 2007 wurde der Deutsch-Tunesier Bilal T. im Heimatland wegen Terrorverdachts festgenommen. Im August schmuggelte sein Bruder Alaeddine Sprengstoffzünder für die Sauerland-Gruppe aus der Türkei nach Deutschland. Gegenüber den Ermittlern beteuerte er, er sei kein Terrorist.

2010 soll Alaeddine T. vier Jugendliche angestiftet haben, in den Jemen in ein Terrorcamp von Al Kaida auszureisen. 2014 gelang ihm die Ausreise nach Syrien. Im September 2015 wurde er getötet.

Aus Wolfsburg kommen Täter, die sich dem IS bewusst und aus freien Stücken angeschlossen haben, die in Syrien und dem Irak die Bevölkerung unterjochen und die wohl auch morden. Islamistisches Gedankengut findet sich aber bei viel mehr Personen in der ganzen Region.

Eine zentrale Rolle in der Salafistenszene spielt der Braunschweiger Muhamed Ciftci. Wegen seiner ultrakonservativen Auslegung des Islams steht der Prediger schon viele Jahre im

Visier der Ermittlungsbehörden. In seiner Moschee traf Alaeddine T. den Kopf der Sauerland-Gruppe, Fritz G., um diesem die Sprengstoffzünder zu übergeben. Weggefährten von Ciftci sind die zwei Galionsfiguren der jungen deutschen Salafistenszene

Sven Lau, der jüngst verhaftet wurde, sowie Pierre Vogel. Eine seiner Veranstaltungen besuchten vor ihrer Ausreise auch die Wolfsburger Dschihadisten.

Kopf dieser Wolfsburger Gruppe war Yassin O.. 2011 kam der Tunesier nach Wolfsburg. Der Arbeitslose, der kaum die deutsche Sprache beherrschte, schaffte es, viele junge Muslime für den IS anzuwerben. Auch in einer Hildesheimer Moschee trat er auf. Hildesheim ist nach Wolfsburg das zweitgrößte Zentrum der Dschihadisten aus Niedersachsen. Heute soll O. Scharia-Richter in Syrien sein.

Können diese Zusammenhänge bloß Zufall sein? Oder muss davon ausgegangen werden, dass unsere Region ein wichtiges Zentrum der deutschen Islamistenszene ist, deren Hinterleute Personen wie Yassin O. gezielt nach Deutschland holen? Diese Frage könnten die Sicherheitsbehörden beantworten.

Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass das Problem der Radikalisierung junger Muslime lange nicht gelöst ist. Der IS ist für viele eine Jugendkultur, wie man auf ihren Facebook-Seiten sehen kann. Die Stadt, die die Herkules-Aufgabe der Flüchtlinge stemmen muss, will mit Hilfe der Sicherheitsbehörden ihr Personal sensibilisieren, damit salafistisches Gedankengut bei Jugendlichen schnell identifiziert wird.

In dem Zusammenhang ist die Wolfsburger Erklärung zu erwähnen. Darin verpflichteten sich im Dezember 2014 Vertreter der christlichen, jüdischen und der muslimischen Gemeinde, sich aktiv „für ein friedliches Miteinander aller Menschen, Religionen und Weltanschauungen“ einzusetzen, weil ihnen allen „Religionsfreiheit kostbar ist“.