Braunschweig. Richard Kiessler, außenpolitischer Korrespondent unserer Zeitung, schreibt über das Verhältnis der Amerikaner und der Europäer

Jesus Christus wollen nächste Woche 1,4 Millionen Amerikaner zum Präsidenten wählen. Auf diesen Kandidaten für das Kanzleramt käme hierzulande nicht einmal die harmlose Splitterpartei bibeltreuer Christen. Ein untrügliches Zeichen, dass die mentale DNA der Amerikaner eine andere ist als die der Europäer? Letztere mögen längst nicht mehr die Zuversicht hegen, in „Gottes eigenem Land“ zu leben und – wie Obamas Herausforderer Romney predigt – die „Hoffnung der Erde“ zu verkörpern.

Der amerikanisch-europäische Wertekanon, lange schöngeredet, zerbröselt auch in der harten politischen Realität. So werden die transatlantischen Beziehungen schöner geredet, als sie wirklich sind. Die Werte des Westens gerinnen, seit es diesen als politisch-strategische Einheit nicht mehr gibt, zu „gebetsmühlenhaft wiederholten Beschwörungsformeln der Vergangenheit“.

Was Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, so lapidar feststellt, trifft nicht auf die ökonomischen Interessen zu: Die USA und Europa verbindet die weltweit engste wirtschaftliche Partnerschaft. Ihr Wert lässt sich auf über 2,5 Billionen US-Dollar und 14 Millionen Jobs beiderseits des Atlantik beziffern. Doch die gemeinsamen Werte werden überstrapaziert: Eine automatische Solidarität mit Amerika gibt es nicht mehr. Die USA haben ihre geo-strategische Perspektive gewechselt, weil dies ihre Interessen erfordern: Im Fokus liegt der pazifische Raum, Europa ist an den Rand gerückt.

Die Amerikaner ignorieren Europa, wenn es uneins ist – wie beim Krieg gegen den Irak oder im Umgang mit China. Sie benutzen Europa, wenn sie auf Zustimmung stoßen – wie in Afghanistan oder im Konflikt mit dem Iran. Sie setzen eigene Ziele, wenn sie mit anderen Partnern Interessen teilen – wie im Abrüstungspoker mit Russland. Präsident Obama sah die USA nicht länger in der Rolle des Schutzpatrons, er suchte in Europa, oft vergeblich, den ebenbürtigen Partner.

Getrogen hat die Hoffnung, unter Obama werde sich alles zum Besseren wenden. Europa vermochte globalen Risiken nicht aus eigener Kraft zu begegnen. Die Berufung auf die gemeinsamen Werte Demokratie, Freiheit oder Menschenrechte kommen angestaubten Floskeln gleich. Denn Amerika und Europa legen immer öfter ungleiche Maßstäbe an: Die Innen- und Justizpolitik bestimmt mehr Trennendes als Gemeinsames.

Die unterschiedlichen Haltungen zur Rolle des Staates, zur sozialen Vorsorge, zur Todesstrafe und zur Verteilung des Wohlstands sind nur die markantesten Beispiele der Werte-Dissonanzen. Kontrovers geht es auch bei den Rezepturen zur Überwindung der globalen Finanzkrise, den Regeln im globalen Handel oder der Rolle zwischenstaatlicher Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof zu.

Ein ehrlicher Umgang miteinander ist unumgänglich. Statt einander zu belehren, müssen Amerikaner und Europäer mit ihren Unterschieden leben.