Braunschweig. Richard Kiessler, außenpolitischer Korrespondent unserer Zeitung, über den Krieg am Hindukusch, der allzu leicht in Vergessenheit zu geraten scheint.

In der südafghanischen Provinz Helmand lud ein Polizist drei amerikanische Soldaten der „Marine Special Operation Forces“ in seinem Kontrollposten zum Abendessen ein. Am Tisch erschoss er sie. Allein im August starben 15 alliierte Soldaten durch „Friendly Fire“ uniformierter Afghanen, seit Jahresbeginn bereits 40. Die Nato hat deshalb diese Woche die Ausbildung afghanischer Polizisten ausgesetzt.

Afghanische Soldaten werden vielerorts an Holzwaffen ausgebildet, um ihre ausländischen Instrukteure vor Übergriffen zu schützen. Die Angehörigen der Isaf-Schutztruppe führen stets eine geladene Waffe mit sich. An allen Kontakten mit afghanischen Sicherheitskräften nehmen „Schutzengel“ teil. Das sind bewaffnete Soldaten, die etwas abseits mit Handfeuerwaffen das Zusammentreffen überwachen und ihren Kameraden Deckung geben können.

Aus dem Untergrund brüstete sich Taliban-Chef Mullah Mohammed Omar, die afghanischen Sicherheitskräfte erfolgreich infiltriert zu haben. Dagegen behauptet die Nato, nur zehn Prozent dieser Angriffe seien von Aufständischen begangen worden. Alle anderen lägen „persönliche Animositäten und Stress“ zu Grunde.

Derweil geht der fast vergessene Krieg in Afghanistan weiter. In nur einer Woche, berichtete Oberst Ruprecht von Butler vom Einsatzführungskommando Potsdam in der Politischen Akademie Tutzing, habe es 482 Schusswechsel und 125 Sprengstoffanschläge geben. Statistisch gesehen fallen pro Tag 1 bis 1,5 Isaf-Soldaten. Der Blutzoll afghanischer Zivilisten liegt um ein Vielfaches höher: Im ersten Halbjahr 2012 starben 1 145 Afghanen, zumeist nach Attentaten oder Sprengstoffanschlägen der Taliban.

In zwei Jahren wollen die ausländischen Streitkräfte den Afghanen die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übertragen und das Land verlassen. Mit der Rekrutierung der Armee und der Polizei sei man „voll im Plan“, loben sich die Nato-Militärs, die Sollstärke von 352 000 Mann werde erreicht. In Wahrheit kommt der Rückzug aus Afghanistan dem Eingeständnis eines totalen Scheiterns gleich. Ein Frieden ist nicht in Sicht.

Afghanistan ist in der Liste der am wenigsten entwickelten Länder von Platz 192 auf 155 geklettert. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 590 US-Dollar, die – zu 97 Prozent fremdfinanzierte – Wirtschaft wächst um neun Prozent im Jahr. 8000 Kilometer Straßen sind in den elf Kriegsjahren gebaut wurden, fast acht Millionen Kinder gehen zur Schule, 38 Prozent von ihnen sind Mädchen.

Doch ein moderner Staat ist Afghanistan nicht geworden, eine demokratische Entwicklung der Stammesgesellschaft blieb ein naiver Wunsch. Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig geht noch weiter: „Die gescheiterte Demokratisierung führte zu einer Re-Talibanisierung der afghanischen Gesellschaft.“

„Der Krieg, den wir kennen, wird nach 2014 vorbei sein“, sagt Präsident Barack Obama. Doch er wird neu strukturiert. Bis zu 20 000 Ausbilder sollen den afghanischen Streitkräften verhindern helfen, dass die Taliban die (ganze) Macht übernehmen.