Braunschweig. Richard Kiessler, außenpolitischer Korrespondent unserer Zeitung, über die einstige Frontinsel Quemoy.

Der düstere Tunnel im Granitfelsen führt bis zu einem 40-Millimeter-Geschütz, dessen Rohr ins Freie ragt und den Blick über das aufgewühlte Südchinesische Meer auf das Festland öffnet. In der milden Sonne ist die nur zehn Kilometer entfernte Hafenstadt Xiamen mit ihrer Skyline trotz des Dunstes gut zusehen.

Plötzlich hallen Befehle durch den unterirdischen Tunnel, ein Dutzend Soldaten stürmt im Laufschritt auf den Artillerievorposten zu. Unter martialischem Gebrüll laden zwei Soldaten des Sturmtrupps die Haubitze, der Leutnant gibt den Feuerbefehl – der milde Knall der Platzpatrone verhallt rasch, dem ausländischen Besucher zuliebe.

Quemoy wurde zu einer Festung ausgebaut

Ich bin in Quemoy, der größten von 13 kleineren Inseln, vor der Küste der Provinz Fujian. Diese Insel, die die Chinesen Kinmen („Goldenes Tor“) nennen, war die „Frontinsel“, von der aus die 1949 vor den Kommunisten nach Taiwan geflohenen Truppen der Kuomintang die Angriffe der chinesischen Volksbefreiungsarmee mit amerikanischer Hilfe abzuwehren suchten. Quemoy wurde zu einer Festung ausgebaut, mit versteckten Kanälen und Tunneln durchzogen, einschließlich eines komplett ausgestatteten unterirdischen Hospitals. Die Festung überstand monatelange Bombardements und heftigen Artilleriebeschuss. Allein 1958 bombardierten Mao Tse-tungs Militärs 44 Tage Kinmen, über 470 000 Granaten wurden vom Festland abgefeuert.

Der Krieg an der Straße von Taiwan endete erst Anfang der 70er Jahre, als die Volksrepublik China der Uno beitrat und die Republik China ihren Sitz im UN-Sicherheitsrat räumen musste. Über viele Jahre blieb Quemoy militärisches Sperrgebiet und beschallte aus 24 riesigen Lautsprechern von einem Felsvorsprung die Festlandchinesen mit anti-kommunistischer Propaganda. Heute leben hier 66 000 Menschen, vor allem in der betriebsamen Inselhauptstadt Jincheng, in der ich noch heute Spuren des Krieges, aber auch zahlreiche erhaltene Häuser mit ihren nach oben gebogenen Dächern im typischen Fujian-Stil entdecke.

Lärmende Reisegruppen vom nahen Festland nehmen die „Schlachtfeld-Kultur“ der einstigen Frontinsel in Augenschein. Zwar definiert die Führung in Peking Taiwan nach wie vor als „abtrünnige Provinz“. Aber seit 20 Jahren lebt man miteinander im Frieden. Die wirtschaftlichen Interessen gedeihen prächtig und lassen die politischen Konflikte ruhen. Der über 40 Jahre währende Kriegszustand auf Taiwan ist aufgehoben, die Republik ihres autokratischen Gründers Tschiang Kai-Tschek repräsentiert das „andere“, das demokratische China - mit freien Wahlen, Marktwirtschaft und Pressefreiheit.

Aus Granaten-Resten werden Messer

Die einst hart umkämpfte lnsel Quemoy wird im Stundenakt von Fähren voller Touristen aus Xiamen angefahren. Etliche probieren den aus Hirse gebrannten hochprozentigen Kaoliang-Likör. Andere treffe ich in der Werkstatt von Maestro Wu, der Schwerter zu Pflugscharen schmiedet: Aus den Granaten-Resten schleift er Messer für den Hausgebrauch. Seine Stahlvorräte reichen noch für Jahrzehnte.