Günter Wallraff spricht im Interview über den braven Soldaten Schwejk, über dreiste Gastronomen und über Politiker in der Wirtschaft

Als türkischer Gastarbeiter Ali oder Bild-Reporter Hans Esser ist er berühmt geworden. Seit Jahren recherchiert der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff unter falschen Identitäten in Betrieben, um Missstände anzuprangern. Über seine neuen Recherchen in einem Call-Center und einer Großbäckerei sprach er kürzlich in der Kniestedter Kirche und im Gymnasium in Salzgitter Bad. Anschließend traf er sich mit unseren Lesern

Henrik Zein: Sie sind für viele Menschen ein Vorbild. Wer sind Ihre Vorbilder?

Als Kind war es Till Eulenspiegel. Allerdings mit Einschränkungen – Till Eulenspiegel hat ja alle der Lächerlichkeit ausgesetzt. Die, die sonst nichts zu lachen haben, setze ich aber nicht dem Gespött aus. Ich entblöde lieber die, die sich feixend und übermächtig über andere hinwegsetzen.

Später war Soldat Schwejk ein Vorbild. Während meiner zehnmonatigen Kriegsdienstverweigerung bei der Bundeswehr, wo ich mich standhaft geweigert habe, ein Gewehr in die Hand zu nehmen, hat er mir geholfen, die Kunst des Dummstellens zu lernen. Auch Gandhi war für mich wichtig – das Ideal des gewaltfreien Widerstands.

Claudia Nowak: Sie decken seit Jahren skandalöse Zustände in Unternehmen auf. Wird das denn mittlerweile anerkannt? Ich bin im Internet auf einige Kommentare über Sie gestoßen, die den Tenor haben: "Ach, der schon wieder."

Früher stand ich oft mit dem Rücken zur Wand. Ich galt als Übeltäter, der mit verwerflichen Methoden arbeitet. Aber inzwischen bekomme ich eine breite Zustimmung.

Fast die Hälfte meiner Zeit verwende ich dafür, Zuschriften aus ganz Deutschland zu beantworten, in denen Menschen mir negative Erfahrungen mitteilen und bitten, dass ich mich der Sache annehme. Ich erreiche manchmal über Anrufe, Briefe und Interventionen, dass sich unmittelbar etwas verbessert.

Claudia Nowak: Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Zuletzt habe ich das bei einer großen Supermarktkette geschafft. Da mussten Frauen ihrem Lohn hinterherrennen, bekamen keine Krankheitstage bezahlt, keine Urlaubstage. Ich habe mich eingeschaltet, und es gab Gespräche. Die Justiziarin des Konzerns war dabei, der Geschäftsführer, die Gewerkschaft und eine betroffene Arbeiterin. Und es wurde sofort etwas geändert.

Claudia Nowak: Solche Missstände sind keine Einzelfälle.

Es sind Zustände. Kürzlich habe ich in einer Luxusgastronomie recherchiert, weil Lehrlinge auf mich zugekommen sind. Dort müssen 20 Lehrlinge bis zu 16 Stunden mit ein paar Pausen dazwischen arbeiten.

Wer sich wehrt, wird rausgemobbt. Der Inhaber sagt dreist: "Das ist in der Branche so üblich, mir kann keiner was." Ich habe die Staatsanwaltschaft, das Gewerbeaufsichtsamt und die Industrie- und Handelskammer informiert, aber bisher passiert nichts. Solche Fälle gibt es immer wieder.

Henrik Zein: Halten Sie einen gesetzlichen Mindestlohn für sinnvoll?

Ja, das ist die Mindestvoraussetzung. Wenn das allgemein üblich ist, haben alle Vorteile davon. Denn dann kommt keiner und unterbietet Löhne.

Aber damit ist es nicht getan. Es geht auch um Arbeitsbedingungen. Es muss ein Boden gefunden werden. Angesichts der Wirtschaftskrise gehe ich davon aus, dass die Lage in den Betrieben noch dramatischer wird. Aber nicht nur das.

Ich sehe die Demokratie an sich in Gefahr. Sie ist keine erkämpfte Demokratie, sondern in vielem nur eine Schein- und Fassadendemokratie. Ich sehe unsere ganze Gesellschaft gefährdet, wenn Volksverführer kommen, die etwas telegener sind als die rechtsradikalen Fratzen, die sich bisher präsentieren.

Walter Kien: Haben Sie den Eindruck, dass sich junge Leute verstärkt mit solchen Problemen und Schattenseiten auseinandersetzen?

Ja. Jahrelang war die reine Spaßgesellschaft angesagt. Aber da hat vieles ausgejuxt. Bei jungen Menschen ist soziales Interesse und Interesse an Politik im Kommen.

Walter Kien: Würden Sie zivilen Ungehorsam als Kategorie einführen, nach der man handeln soll?

Ich würde es positiv besetzen: Zivilcourage. Es geht darum, wie ein Einzelner sich einbringen und etwas erreichen kann. Das sollte als Schulfach gelehrt werden. Stattdessen werden Kopfnoten für Fleiß, Pünktlichkeit, Disziplin verteilt. Wenn das Primärtugenden werden, kann das nach hinten losgehen.

Walter Kien: Es müssten Hürden abgebaut und Freiräume für solche Inhalte geschaffen werden. Warum gehen Sie nicht verdeckt in die Schulen, um dort zum Beispiel das Übermaß an Bürokratie aufzudecken?

Ich werde jeden Tag auf Themen hingewiesen – dafür brauchte ich zehn Leben. Das müssten auch andere machen, es gibt ja genügend kritische Köpfe.

Ich finde übrigens, dass sich auch die Gewerkschaftsbewegung entbürokratisieren muss. Es müssten Stipendien geschaffen werden für Journalisten, aber auch für junge Gewerkschafter, die ihren Schreibtisch verlassen und in die Betriebe gehen – dorthin, wo Gewerkschaften nicht erlaubt sind, wo Arbeitnehmerrechte außer Kraft gesetzt sind. Das müssen sie öffentlich machen. Wenn ich als Einzelner schon so viel Wirkung erreiche, wie erst, wenn das eine Bewegung ist?

Außerdem ist meine Arbeit doch ein Beispiel dafür, dass Zivilcourage in eine Lebenshaltung münden kann. Immer wieder sagen mir Menschen: "Deine Bücher haben bewirkt, dass ich mein Leben verändert habe." Und ohne eine bestimmte Literatur wäre ich ja auch nicht zu meinem Engagement gekommen. Meine Mutter wollte mich eher zu einem angepassten, ängstlichen Menschen erziehen. Wir haben an der Grenze zur Sozialhilfe gelebt, nachdem mein Vater gestorben war. Meine Mutter hatte immer Angst, das Wenige noch zu verlieren, und war zu verschämt, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen.

Walter Kien: Welche Autoren haben Sie damals beeinflusst?

Böll, Borchert, Tucholsky, Brecht. Ich hatte einen Deutschlehrer, der uns den Stoff hautnah vermittelt hat. Das war bei meiner Kriegsdienstverweigerung mein Rüstzeug, das hat mir den Rücken gestärkt. Ich wusste: Es gibt ja ganz andere, die viel mehr riskiert haben als ich.

Claudia Nowak: Heute sind nur wenige bereit, für ihre Rechte oder die Rechte anderer einzutreten. Was muss geschehen, damit sich Jugendliche engagieren und organisieren?

Es muss zum Beispiel eine neue Medienlandschaft entstehen. Bestimmte Medienkonzerne zeigen ständig eine absolut verlogene Glimmerwelt. Da werden Erben wie Paris Hilton als Vorbilder hingestellt, die nie etwas geleistet haben, außer dass sie Kohle haben. Geld, Status, Prestige und Protz alleine gelten als Werte. Unzählige Jugendliche sitzen dem auf.

Ich sehe noch ein Problem: Einige Politiker betrachten Politik als Geschäft. Ich denke an ein so abscheuliches Beispiel wie Wolfgang Clement, der immer schon die Interessen der Großindustrie und der Leiharbeiterbranche bedient hat und nun hochdotierter Vorsitzender eines Instituts der Adecco-Gruppe ist – eine der größten Zeitarbeitsfirmen weltweit.

Gleichzeitig bedient er als RWE-Aufsichtsrat die Atomlobby und nutzt seine Partei nur noch als Deckmäntelchen. So etwas schafft Politikverdrossenheit. Gerade die Jüngeren sagen: "Die Politiker sind alle so" – was aber gar nicht stimmt. Es ist nicht die Mehrheit.

Henrik Zein: Warum haben Sie sich nie in einer Partei engagiert?

Bei meiner Arbeit ist es hinderlich, sich parteipolitisch zu binden. Es gibt Kollegen, die das getan haben und Freundschaften zuliebe weggeschaut haben. Ich bin meinem Ausschluss aus der SPD durch Nichteintritt zuvorgekommen. Außerdem bin ich Wechselwähler. Ich war mal den Grünen nahestehend, mal dem linken Flügel der SPD, aber der wurde ja bekanntlich eliminiert.

Henrik Zein: Könnte das starke Aufkommen der Linken auch eine Konsequenz ihrer Recherchen sein?

Nein, ich würde sagen, dass die SPD ihre Seele verkauft und ihre sozialen Wurzeln gekappt hat. Die Linke macht zum Teil die Politik, die ursprünglich die SPD im Programm hatte. Im Osten sind mir die Linken teilweise zu DDR-nostalgisch, manches ist mir zu simpel. Aber es ist wichtig, dass eine Partei existiert, die auf demokratischer Basis Zweifel setzt, Skepsis reinbringt und noch Utopien zulässt, während die anderen Parteien immer weniger unterscheidbar sind.

Und wie ich den Oskar Lafontaine als Strategen kenne, wird der das irgendwann wieder zusammenbringen – in vier bis acht Jahren. Dann wird es infolge des erbarmungswürdigen Zustandes der jetzigen SPD aller Voraussicht nach eine Vereinigung von Linken und SPD geben.