Thu Huong Luu aus Helmstedt berichtet über ihre 45-tägige Odyssee im Südchinesischen Meer

Am Wochenende hatten vier Boote mit Flüchtlingen an Bord in Libyen abgelegt. Keines davon kam am Ziel, in Italien, an. Immer wieder sterben Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Vor 30 Jahren flohen viele Vietnamesen aus ihrem Land. Eine von ihnen erzählt darüber.

Vier Tage. Mehr Zeit hat die Familie von Thu Huong Luu im Oktober 1978 nicht. Über Nacht wird die Familie durch das kommunistische Regime enteignet. Statt in ihrer Fabrik in Ho-Chi-Minh-Stadt sollen die Tee-Produzenten auf den Äckern vor den Toren der vietnamesischen Stadt arbeiten.

"Verwandte erzählten uns von einem Schiff, mit dem wir fliehen können", sagt Thu Huong Luu, die seit 1979 in Helmstedt lebt. "Das Boot war unsere Hoffnung", erzählt die heute 56-Jährige. "Wir dachten, wenn wir in Vietnam bleiben, sterben wir langsam und qualvoll."

Im Hafen zahlen Luu, ihr Mann, die drei Kinder sowie ihre Schwiegereltern mit Goldbarren für die Überfahrt. Am Kai liegt bereits der Frachter "Hai Long". Rost überzieht fast das gesamte Boot. An vielen Stellen dringt Wasser ein. "Viele wollten nicht mehr auf den Frachter, als sie dessen Zustand sahen", erzählt Luu. Offenbar aus Angst, dass sie an das Regime verraten werden könnten, droht die Besatzung, diejenigen zu erschießen, die nicht auf das Boot wollen.

Vor den Flüchtlingen liegen 45 lange Tage im Südchinesischen Meer. Mehr als 2500 Menschen drängen sich auf drei Decks. "Fünf Meter breit und vielleicht fünfzig Meter lang war das Boot", erinnert sich Luu. "Wir konnten nur stehen, uns nicht bewegen, mit meinen Kindern auf dem Arm schlief ich im Stehen."

Die Familie ist auf dem Mitteldeck untergebracht. Ein dunkler, stickiger Raum, 20 Meter unterhalb des Oberdecks, auf dem die Menschen der Hitze und nächtlichen Stürmen trotzen. Seile, an denen die Passagiere hoch- und runterklettern, trennen die Ebenen. "Es gab kein Licht, in der Nacht haben wir nichts gesehen", erzählt Luu.

Ein Sturm schlägt das Boot von einer Seite auf die andere. Unter Deck riecht es nach Erbrochenem und Urin. In der Masse werden sechs Babys geboren. "Ich kam mir vor wie ein Stück Müll, ohne Hoffnung und vielleicht auch ohne Wiederkehr", sagt die Vietnamesin. Von vier Passagieren weiß die Familie, dass sie die Strapazen nicht überlebt haben.

"In der ersten Nacht fiel ein vier oder fünf Jahre alter Junge ins Meer", erinnert sich Luu. Die Besatzung ordnet daraufhin an, dass mehr Menschen auf die unteren Decks gehen. "Eine Frau drehte dann durch und starb wenig später", sagt Luu. Die toten Körper wirft die Besatzung einfach ins Meer.

Schon nach wenigen Tagen sind die Flüchtlinge entkräftet. Am Tag bekommt jede Familie einen Becher Wasser. Das Essen geht schon nach einer Woche aus. Bei vielen bilden sich Blähbäuche, vom vielen Stehen schwellen Beine und Füße an.

Auch bei Familie Luu reichen mitgebrachtes Trockenfleisch, Reis und Kekse nicht lang. "Byn", zu deutsch "Reis", ist das erste Wort von Luus jüngster Tochter.

Nach 45 Tagen endet für die Familie die Odyssee. Vor Malaysia erfahren sie, dass sie von Kuala Lumpur aus nach Hannover fliegen können. "Ich fühlte mich, als sei ich im Himmel", erinnert sich die Vietnamesin an den Beginn eines neuen Lebens in Deutschland.