Interview über gute Noten für freiwilligen Einsatz, die Rolle der Politik und die Bedeutung des Staates

Zum 6. Mal vergibt unsere Zeitung den Gemeinsam-Preis für Bürgerengagement. Dazu ein Interview mit Professor Thomas Olk von der Universität Halle-Wittenberg. Er ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Bürger für Bürger.

Mit Professor Thomas Olk sprach Henning Noske.

Im Auf und Ab des bürgerschaftlichen Engagements scheint es auch Rückgänge zu geben. Wie schätzen Sie das ein?

Ein Zusammenleben in unserer Gesellschaft ist überhaupt nur möglich, weil sich Menschen freiwillig und unentgeltlich in das Gemeinwesen einbringen. Schauen Sie nur auf die kommunale Ebene: Ohne die freiwillige Feuerwehr, ohne die vielen Aktiven in den Vereinen, sei es nun im Sport, in der Jugendarbeit oder in der Kultur – ginge es gar nicht.

Würden Sie so weit gehen, zu sagen: Unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft wären ohne das Bürgerengagement gar nicht lebensfähig?

Unbedingt! Nehmen Sie doch nur einmal die Beziehungen zwischen alt und jung. Junge und alte Menschen leben heute weitgehend getrennt. Außerhalb der Familie müssen sie sich kaum mehr begegnen. Jede Altersgruppe hat ihre eigenen Verbände; für den Urlaub buchen wir Senioren- oder Jugendreisen. Im Arbeitsleben werden Menschen ab 50 immer noch weitgehend aussortiert.

Im Engagement ist das anders! Es gibt Tausende von Projekten, wo junge Menschen etwas mit älteren machen. Es gibt Besuchsdienste von Schulklassen, die ins benachbarte Altenheim gehen und dort mit den Menschen sprechen – oder ihnen den Umgang mit dem Handy beibringen. Und umgekehrt: Ältere gehen in die Grundschule, lesen vor. Handwerksmeister helfen Problemschülern für den Abschluss auf die Sprünge.

Ist das eine durchweg positive Bilanz – oder bedarf es nicht doch ständig neuer Impulse?

Ja, die brauchen wir aus zwei Gründen:

Es engagieren sich bei uns noch längst nicht genug Menschen. Umfragen belegen, dass sich in Deutschland ungefähr jeder dritte Bundesbürger engagiert. In den USA ist es jeder zweite!

Zweitens muss man immer neue Menschen gewinnen. Denn es ist nicht mehr selbstverständlich, dass junge Menschen durch das Vorbild ihrer Eltern in ein Engagement hineinwachsen.

Wer früher in einem christlichen Elternhaus aufwuchs, engagierte sich in Kirche und Jugendverband. Im politischen und in anderen Milieus war es auch keine Frage, dass man mit anpackte. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich.

Das sind doch Rückschläge für das Bürgerengagement, wenn traditionelle Milieus schwinden.

Ja, die Wege ins Engagement werden schwieriger. Trotzdem gehen die Zahlen keineswegs zurück. Die kulturpessimistische Aussage, junge Menschen seien nur noch auf sich selbst bezogen, ist falsch. Die Bereitschaft ist da, es braucht jedoch eine Initialzündung.

Deshalb setzen viele Projekte schon in der Schule an – Stichwort "Service-Learning". Klassen gehen in Projekten in Brennpunkte des Gemeinwesens und werten die Erfahrungen hinterher im Unterricht aus.

Wir sind nicht so weit wie in den USA, wo wir in fast jeder Schule "Service-Learning" finden.

In amerikanischen Schulen und Unis ist es mittlerweile Pflicht, sich an diesen Programmen zu beteiligen – sonst kann man den Abschluss nicht machen. Dafür hat der Staat viel Geld ausgegeben. Das wird in Deutschland gegenwärtig intensiv diskutiert.

In Baden-Württemberg gibt es ein solches Projekt bereits: Alle Realschüler müssen eine bestimmte Anzahl von Stunden leisten. An vielen anderen Schulen gibt es freiwillige Projekte, die aber nur existieren, weil sich einzelne Schüler oder Lehrer dafür eingesetzt haben.

Es spricht viel dafür, Engagement in den Unterricht zu integrieren. Die Schüler lernen sehr viel dabei, sie spüren, dass sie gebraucht werden, entwickeln Solidarität und Anteilnahme gegenüber Benachteiligten – und erfahren, dass ihr Handeln etwas bewirkt. In einigen Jahren, das sage ich voraus, werden wir Engagement auch als Pflicht-Unterricht in Deutschland haben.

Und die Universitäten?

Auch dort beginnt es. Natürlich ist die allgemeine Arbeits-Verdichtung im Zuge der neuen Bachelor- und Master-Abschlüsse ein Problem ...

Aber Engagement und der Blick über den eigenen Tellerrand gehören doch zu den wichtigsten Schlüsselqualifikationen.

... und deshalb predigen wir das ja als Bundesnetzwerk bürgerschaftliches Engagement immer wieder. Es gibt Betriebe, die das schon erkannt haben, allerdings zu wenige. Deshalb müssen wir dort noch mehr dafür werben, dass Mitarbeiter, die sich engagieren, über besondere Qualifikationen verfügen, die auch für den Betrieb nützlich sind – und damit ein Gewinn für alle sind.

Also fehlt uns vielleicht doch noch etwas von einer Mentalität des Engagements?

Ja, ich würde es so sehen. Und das, obwohl wir doch mit unserer Quote von 34 Prozent der Menschen, die sich engagieren, im europäischen Vergleich gar nicht schlecht dastehen.

Allerdings wird oft immer noch gefragt: Sind das vielleicht Menschen, die sich ausbeuten lassen? Sind sie verrückt oder besonders schlau? Haben sie nichts Besseres zu tun? Das sind Vorurteile. Und das hindert manche, sich zu engagieren.

Man könnte auch fragen: Wer sich freiwillig und unentgeltlich engagiert, ist der eigentlich blöd? Warum soll ich denn nicht einen Lohn dafür bekommen, wenn ich ordentlich gearbeitet habe?

Ganz einfach: Es gibt auch einen privaten, einen ganz persönlichen Gewinn. Derjenige, der sich einbringt – und das sagen alle Engagierten – tut etwas für die Gemeinschaft, aber er tut auch etwas für sich!

Viele tun es, weil sie mit anderen Menschen zusammenkommen. Viele wollen etwas zurückgeben, das ihnen im Leben zugefallen ist. Viele sagen, dass sie so den Zugang zum Lernen und zu Lernorten finden. Das betrifft oft junge Menschen – und deshalb sollte es ihnen auch zertifiziert werden.

Welches Bild eines Staates und seiner Werte steckt denn dahinter, wenn wir von der Bürgergesellschaft sprechen?

Wir sprechen von einer Gesellschaft, in der alle wissen, dass es für alle von Vorteil ist, wenn man sich einbringt.

Negative Folgen entstehen dagegen, wenn man sich als "Ohnemichel" in seine vier Wände zurückzieht und sagt: Lass mal die anderen machen, ich habe doch schon genug Steuern bezahlt. Dann leidet das Vertrauen untereinander, wir werden ärmer.

Aktuell erleben wir einen Staat, der sich nicht mehr zurückzieht, sondern Räume regelrecht zurückerobert.

Der Staat bietet Infrastruktur, auch für die Wirtschaft. Das gleiche gilt für uns alle als Bürger. Wir wollen weniger Steuern zahlen – doch wir wollen gleichzeitig gute Schulen, Verkehrsmittel, Sicherheit. Das muss der Staat machen, das kann er am besten. Und er kann es auch effizient tun.

Aber der Staat kommt nicht klar, wenn ihn die Bürgergesellschaft nicht ergänzt. Was Freiwillige und Ehrenamtliche tun, das ist es, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Wenn die Bürger jedoch aufgeben und sich abwenden – dann wird es auch für die Demokratie gefährlich.

Welches Engagement ist besonders aktuell?

Das sind die Paten-Modelle – zum Beispiel für Menschen mit Migrationshintergrund. Bürger helfen beim Deutschlernen, beim Anschlussfinden. Engagement ist ein Motor für Integration.

Wo brauchen wir mehr Bürgerengagement?

Im Bildungsbereich. In den Schulen ist noch ganz viel Raum für Engagement – sowohl der Eltern als auch der Vereine und Unternehmen um die Schule herum. Wir haben gegenwärtig den Ausbau der Ganztagsschulen – hier entsteht viel Raum für Engagement.

Welche Forderungen sind an die Politik zu richten?

Die Bundesregierung hat sich auf den Weg gemacht, es gibt eine "Initiative Zivilengagement" von Ministerin Ursula von der Leyen. Eine Vielzahl von Projekten sollen mit der entsprechenden finanziellen Ausstattung gestartet werden.

Hier müssen die Initiativen, Vereine und Verbände der Zivilgesellschaft aufpassen, dass sie wirklich beteiligt werden bei der Entwicklung der Projekte. Freiwilliges Engagement als "Staatsveranstaltung" kann und wird es nicht geben.

Man muss darauf achten, dass die Programme – wie zum Beispiel die generationsübergreifenden Freiwilligendienste – nachhaltig sind. Meistens ist nach drei Jahren Projektförderung alles wieder zu Ende, weil sich Bund, Länder und Gemeinden nicht über die Weiterfinanzierung einigen konnten.

Werden Bürger beim Engagement doch nur als Notnagel missbraucht?

Nein, sie sind klüger. Sie lassen sich nicht ausbeuten. Wenn sie sich einbringen, dann wollen sie auch mitgestalten. Wer sich einbringt, hat Gestaltungsansprüche.

Wenn Bürger zum Beispiel eine Bibliothek oder ein Freibad übernehmen, die sonst geschlossen worden wären, dann haben sie diese Einrichtungen zu ihrer eigenen Angelegenheit gemacht! Und sie nehmen Einfluss!

Hier zeigt sich, dass mehr Bürgerengagement zu einer anderen Aufgabenteilung zwischen Staat und Bürgern führt, zu einer Gesellschaft, in der die Bürger ihre Geschicke stärker selbst in die Hand nehmen und damit an Einfluss gewinnen!

Das ist kein Thema für Sonntagsreden, sondern ein Schlüsselthema für die Politik der nächsten Jahre!

FAKTEN:

Schlagen Sie die besten Kandidaten vor!

Ausschreibung : Wir sammeln Vorschläge für vorbildliches Bürger-Engagement – und drucken in unserer Zeitung die besten Porträts in Text und Bild ab. Eine Jury sucht die Finalisten aus. Aus ihnen wählen unsere Leser die Gemeinsam-Preisträger 2009.

Preisverleihung: Die Preise werden während eines Festaktes am Montag, 25. Mai 2009, 18.30 Uhr, im Braunschweiger Dom verliehen.

Einsendeschluss : 9. Februar 2009. Wir freuen uns auf Ihre Kandidaten-Vorschläge. Senden Sie uns Ihre Vorschläge mit ausführlicher Begründung, der vollständigen Adresse und Telefonnummer des Kandidaten und Ihren Kontaktdaten.

Anschrift: Braunschweiger Zeitungsverlag, Stichwort: "Gemeinsam", Hamburger Straße 277

38114 Braunschweig

Fax: (05 31) 39 00 304

E-Mail: gemeinsam@bzv.de