Maria von Welser spricht über Elend im Reichtum, über einklagbare Kinderrechte und über das Gefühl, von staatlicher Hilfe abhängig zu sein

Maria von Welser ist vielen als Moderatorin des ZDF-Frauenjournals "Mona Lisa" bekannt. Was weniger Menschen wissen: Sie ist auch stellvertretende Vorsitzende von Unicef Deutschland. Auf Einladung der Braunschweiger Unicef-Gruppe war sie kürzlich in der Stadt und hat in der Buchhandlung Thalia aus ihrem Buch gelesen, das sich mit Kinderarmut befasst. Vorher hat sie sich Zeit für ein Gespräch mit unseren Leser genommen.

Morten Hennebichler: Wenn man etwas über Kinderarmut hört, denkt man ja meistens nicht an Deutschland, sondern zum Beispiel an Kinder in Afrika. Sie haben aber ein Buch über Kinderarmut in Deutschland geschrieben. Was war der Anlass?

Ich lebe in einer Stadt, die nach außen hin einen sehr reichen Eindruck macht – Hamburg. Dort gibt es bundesweit die größte Zahl an Stiftungen und Stiftern und auch die meisten Millionäre. Und gleichzeitig leben 64 000 Kinder in Hamburg von Hartz-IV und müssen an Mittagstischen für Bedürftige anstehen, weil sie sonst kein Mittagessen bekommen.

Ich habe eine Reporterin beauftragt mehr dazu zu recherchieren, dann haben wir eine Dokumentation für die ARD gedreht. Und aufgrund dieser Reportage habe ich gedacht: Ich möchte das in einem Buch festschreiben. Ich habe daraufhin mit Hilfe eines Mittagstisches drei Kinder gefunden, die ich ein Jahr lang begleiten konnte. Deren Geschichte erzähle ich.

Helga Lachnit: Wie erkennt man denn, ob ein Kind arm ist?

Arme Kinder sind meistens übergewichtiger als andere. Sie sind häufiger krank. Sie sind sozial auffälliger. Im Herbst laufen sie oft noch mit Sommerkleidung herum. Sie haben meistens kein Pausenbrot dabei.

Anne-Kathrin Doll: Wie stehen Sie zu der Behauptung einiger Politiker, dass viele Hartz-IV-Empfänger ihr Geld angeblich für Zigaretten und Alkohol ausgeben, aber ihre Kinder vernachlässigen.

Das ist ein übles Vorurteil. Dass es natürlich einige Alkoholkranke unter Hartz-IV-Empfängern gibt, muss man nicht wegdiskutieren. Die gibt es aber in der gesamten Gesellschaft.

Hinzu kommt, dass das Leben unter Hartz-IV und ohne Arbeit sehr demotivierend ist. Manche geraten in eine Depression, wenn sie keine Chance sehen, aus diesem Zustand herauszukommen – und sie landen beim Alkohol.

Anne-Kathrin Doll: Halten Sie es für sinnvoll und notwendig, dass der Hartz-IV-Regelsatz für Kinder erhöht wird?

Unbedingt! Das Kasseler Sozialgericht hat das ja schon bemängelt, jetzt wird das Bundesverfassungsgericht im Januar diese Sätze neu bewerten.

Anne-Kathrin Doll: Was könnte die Politik noch tun, um Kinderarmut zu beheben?

Deutschland gibt für Familien und Kinder so viel Geld aus wie kaum ein anderes Land der Welt – nämlich 184 Milliarden Euro im Jahr. Dieses Geld geht in 150 verschiedene Töpfe. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sagt aber: "Das behebt keine Kinderarmut, weil die Hilfe falsch strukturiert ist."

Die skandinavischen Länder zum Beispiel, auch Frankreich und Großbritannien, haben wesentlich weniger arme Kinder, obwohl sie wesentlich weniger Geld ausgeben. Warum ist das so? Weil dort ein Großteil der Gelder in die Institutionen, in die Organisationen geht.

Ich fordere daher verpflichtenden Sprachunterricht für Kinder, verpflichtend Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen mit Mittagessen. Diejenigen Eltern, die es sich leisten können, zahlen für das Mittagessen. Die Kinder, deren Eltern es sich nicht leisten können, bekommen es kostenlos.

Es gibt in Hamburg Schulen, wo sich manche Kinder kein Mittagessen leisten können und in ein anderes Klassenzimmer gehen, während ihre Mitschüler essen. Ich finde, das darf in Deutschland nicht passieren!

Morten Hennebichler: Denken Sie denn, dass die Regierung die richtigen Schritte einleitet?

Ich habe den Koalitionsvertrag gelesen und festgestellt: Es wird wohl kälter in Deutschland. Die Bundesregierung hat zum Beispiel vereinbart, dass Familien mit einer Prämie von 150 Euro belohnt werden, die ihre Kinder zu Hause betreuen und nicht in einen Kindergarten geben. Das ist alles andere als hilfreich.

Ein Versuch in Thüringen zeigt, dass oft genau die Kinder zuhause bleiben, die dringend Hilfe zur Entwicklung ihrer Sprache und ihrer sozialen Kompetenz brauchen. Deren Eltern sind aber auf das Geld angewiesen – für den Haushalt, für Kleidung, für die Abzahlung von Möbeln.

Ein anderes Beispiel ist die geplante Erhöhung des Kinderfreibetrages: Davon profitieren nur Menschen, die ein festes Einkommen haben. Oder nehmen wir das Kindergeld: Laut Koalitionsvertrag soll es um 20 Euro erhöht werden. Aber davon haben Hartz-IV-Familien nichts, weil es ihnen abgezogen wird!

Man muss es doch auch so sehen: Es gibt unzählige gut situierte Familien, die auf die Erhöhung des Kindergeldes um 20 Euro wirklich nicht angewiesen sind. Unterm Strich sind das ja insgesamt 8 Milliarden, die durch die Erhöhung aufgebracht werden müssen.

Dieses Geld muss anders aufgeteilt werden. Es muss denen zugute kommen, die nicht auf der Sonnenseite leben. Fast 3 Millionen Kinder leben bei uns von Hartz-IV!

Morten Hennebichler: Ich erlebe es häufig, dass gerade arme Kinder versuchen, ihre Armut zu vertuschen.

Ja, sie versuchen, ihre Familien und sich selbst zu schützen und die Armut nicht nach außen zu tragen, weil sie sonst ausgegrenzt würden.

Anne-Kathrin Doll: Denken Sie, dass sich Armut der Eltern so auf die Kinder auswirkt, dass diese später gar nicht mehr versuchen, aus der Armut herauszukommen?

Es gibt leider eine dritte Generation von Sozialhilfe- beziehungsweise Hartz-IV-Empfängern. Die Kinder sehen nichts anderes als Eltern, die auf dem Sofa sitzen und nicht arbeiten. Das ist eine finstere Vision. Die armen Kinder von heute sind die Armen und Arbeitslosen von morgen. Das darf doch nicht wahr sein.

Helga Lachnit: Wie kann man denn die Frauen noch stärken? Wenn es den Müttern gut geht, geht es doch auch den Familien gut.

Ein Großteil der Hartz-IV-Empfänger ist alleinerziehend, und es sind Frauen. Deswegen fordere ich Mindestlöhne. Und ich fordere die Chance, dass alle Frauen auch arbeiten können. Die Hälfte aller Hartz-IV-Empfängerinnen steht auf den Listen der Arbeitsagenturen und möchte eine Arbeit. Das ist doch selbstverständlich – sie wollen keine staatliche Hilfe beanspruchen, sondern eigenes Geld verdienen.

Helga Lachnit: Ich habe oft den Eindruck, dass Kinderarmut nur zur Weihnachtszeit ein Thema ist. Danach verschwindet es wieder in der Schublade.

Das muss aber doch nicht sein! Jeder kann jederzeit etwas verändern. Man kann seine Kleider, die man ein Jahr lang nicht getragen hat, in die nächste Kleiderkammer bringen. Man kann in einer Tafel bei der Essenausgabe helfen, Hausaufgaben-Betreuung anbieten, mit Kindern spielen und mit ihnen basteln.

Morten Hennebichler: Gibt es nicht auch Rechte, auf die Kinder sich berufen können, wenn es ihnen schlecht geht?

Vor 20 Jahren wurde die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen unterschrieben – allerdings nicht von den USA und Somalia, und von Deutschland nur mit einem Vorbehalt. Der Vorbehalt lautet sinngemäß: "Wir möchten nicht, dass Kinder von Asylbewerbern und Migranten die gleiche Gesundheitsversorgung haben wie alle anderen Kinder." Nun steht endlich im Koalitionsvertrag, dass der Vorbehalt verschwinden soll. Das ist gut.

Anne-Kathrin Doll: Warum bedarf es überhaupt einer Kinderrechts-Konvention? Sind Kinderrechte nicht in den Menschenrechten erfasst?

Kinderrechte sind notwendig, weil auf der Welt nicht alle Kinder ein gesichertes Überleben haben, weil nicht alle Kinder zur Schule gehen können, weil nicht alle geschützt sind vor Missbrauch und Gewalt, weil unzählige Kinder als Kindersoldaten oder in der Prostitution eingesetzt werden.

Dass Deutschland die Kinderrechte nicht mal im Grundgesetz hat, ist eine Schande. Sie gehören dorthin, weil man sie erst dann einklagen kann. Nur mit dem Familienrecht sind Kinder nicht ausreichend geschützt. Es gibt gerade in der Familie Situationen, wo man Kinder getrennt schützen muss: Missbrauch findet zu 80 Prozent im familiären Umfeld statt.

Helga Lachnit: Aber wie kann ein Kind seine Rechte einklagen?

Es kann ein Erwachsener für das Kind das Recht einklagen – und dann muss es ein Gericht geben, das darüber verhandelt. Das schützt das Kind als eigenständiges Wesen.