Interview mit der Apothekerin Beate Kirk: Das Pharma-Unternehmen Grünenthal hätte eher reagieren müssen

Eine einzige Tablette reichte, um ein Kind im Mutterleib schwer zu schädigen: Contergan. Beate Kirk aus Weddel im Landkreis Wolfenbüttel kennt sich mit dem Skandal aus. Die 45-Jährige arbeitet als freiberufliche Apothekerin, hat Pharmazie studiert und ihre Doktorarbeit über den Fall geschrieben. Cornelia Steiner sprach mit ihr über das Medikament, das Pharma-Unternehmen Chemie Grünenthal und den Prozess.

Warum wurde Contergan überhaupt zugelassen?

Das Medikament ist 1957 als Beruhigungs- und Schlafmittel in den Handel gekommen. Damals gab es noch keine rechtlichen Vorgaben zur Zulassung. Es war den Herstellern überlassen, welche Tests sie durchführten.

Hat das Pharma-Unternehmen Grünenthal die Wirkung getestet?

Grünenthal hat Versuche an Nagetieren gemacht. Das entsprach dem, was in der Branche üblich war.

Wann wurde erstmals bekannt, dass das Medikament gefährlich ist?

Man muss zwischen zwei Folgen unterscheiden. Neben den Fehlbildungen bei Kindern hat Contergan auch unheilbare Nervenschädigungen hervorgerufen: Kribbeln in den Beinen, Taubheitsgefühl, Gehstörungen. Und diese Nebenwirkungen wurden bereits 1959 erkannt. Patienten, Ärzte und Apotheker haben Grünenthal darauf hingewiesen.

Wie hat das Unternehmen reagiert?

1960 testete Grünenthal, ob die Nervenschäden auch in Tierversuchen auftreten. Das war bei Nagetieren aber erfolglos, weil sie einen anderen Stoffwechsel haben. Grünenthal beantragte trotzdem 1961 eine Verschreibungspflicht für den Wirkstoff Thalidomid, der diese schlimmen Nebenwirkung hervorrief. Am 1. August 1961 wurde die Verschreibungspflicht in drei Bundesländern eingeführt.

War die Reaktion angemessen?

Nein, meines Erachtens hätte man Contergan wegen der Nervenschäden schon 1960 nicht mehr als Schlafmittel verkaufen dürfen. Dann wäre die Katastrophe vermeidbar gewesen.

Wann wurde ein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Contergan und Fehlbildungen bei Neugeborenen offensichtlich?

Der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz hat den Zusammenhang 1961 erkannt. Am 15. November informierte er den Forschungsleiter von Grünenthal, Heinrich Mückter. Der wollte es erst nicht wahrhaben.

Am 24. November gab es dann ein Gespräch bei der nordrhein-westfälischen Gesundheitsbehörde in Düsseldorf mit Vertretern der Firma Grünenthal und Kinderarzt Lenz. Das Unternehmen ging dabei nicht auf die Forderung ein, Thalidomid-haltige Medikamente aus dem Handel zu nehmen. Stattdessen drohte Grünenthal Regress an, falls es zu einem Verbot kommen sollte.

Ende November wurde Contergan aber trotzdem vom Markt genommen.

Ja, weil einen Tag zuvor ein Artikel in der "Welt am Sonntag" erschienen war. Die Überschrift lautete: "Missgeburten durch Tabletten?". Vermutlich hat ein Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde der Presse einen Tipp gegeben. Auf jeden Fall hat dieser Bericht richtig eingeschlagen – Grünenthal musste reagieren und nahm am 27. November alle Thalidomid-haltigen Arzneimittel aus dem Handel.

War das Problem damit erledigt?

Nein. Der Wirkstoff Thalidomid war ja nicht nur in Contergan enthalten, sondern auch in Medikamenten gegen Fieber, Durchfall, Grippe, Husten oder Rheuma. Viele Menschen hatten diese Medikamente noch zu Hause und nahmen sie weiter ein.

Außerdem wirkte Thalidomid nur am Anfang der Schwangerschaft schädlich – also in einer Zeit, in der die meisten noch gar nicht wussten, dass sie schwanger waren und sorglos Tabletten schluckten.

Es dauerte dann sieben Jahre, bis der Prozess gegen die Firma Grünenthal begann. Warum gab es schließlich kein Urteil?

Das Verfahren wurde 1970 wegen geringfügiger Schuld eingestellt. Das Gericht argumentierte, die Angeklagten hätten aus Gruppenzwang gehandelt. Eine individuelle Schuld sei nicht nachzuweisen.

Die Parteien haben außerdem einen Vergleich vereinbart. Grünenthal sollte 100 Millionen Euro plus Zinsen zahlen. Der Vergleich wurde allerdings nie wirksam. Stattdessen trat 1972 ein Gesetz in Kraft, das die Einrichtung einer Stiftung vorsah. Die Entschädigungssumme floss in die Stiftung.

Die Contergan-Opfer konnten zwischen einer einmaligen Auszahlung und einer Rente wählen. Inzwischen ist das Geld von Grünenthal längst aufgebraucht, und Millionen von Steuergeldern sind in die Stiftung geflossen.