Göttinger Politikwissenschaftler und Islam-Experte: Innenminister Schäuble ist auf dem falschen Weg

Bassam Tibi schätzt klare Worte. Der 62-Jährige zitiert einen seiner Lehrer, den großen Philosophen Max Horkheimer: "Europa ist eine Insel der Freiheit in einem Ozean der Gewaltherrschaft. Es ist Pflicht, Europa zu verteidigen." Auch Tibi sieht Europa in Gefahr: durch den Islamismus. Mit dem Wissenschaftler sprach Reinhard Brennecke.

Der Journalist Henryk M. Broder meint, dass der Westen bei Streitigkeiten mit Islamisten einknickt. Den Karikaturen-Streit bringt Broder auf die Formel: Hurra, wir kapitulieren! Stimmen Sie zu?

Leider gibt es diese Anpassung, die Herr Broder kritisiert. Aber er unterscheidet nicht genau und konsequent zwischen Muslimen und Islamisten. In Kopenhagen, wo der Karikaturen-Streit entbrannte, lebt mit Abu Laban einer der größten islamistischen Ideologen, zugleich gibt es dort aber auch die wichtige Gruppe der Demokratischen Muslime Dänemarks. Die Islamisten geben vor, für alle Muslime zu sprechen. Das stimmt nicht, aber sie beeinflussen die öffentliche Meinung und beherrschen die Moscheen. Ich komme gerade aus Kopenhagen, wo demokratische Muslime ein Gegengewicht zu den Islamisten gebildet haben.

Ist der Westen, speziell die Bundesrepublik, von eigenen Werten wie Meinungsfreiheit, Toleranz, und Pluralismus nicht mehr überzeugt?

Der Westen ist oberflächlich geworden und ängstlich zugleich. Werte sind beliebig geworden. Es herrscht zugleich der Gedanke: Bei den Islamisten handelt es sich um einige Verrückte. Das kriegen wir schon hin! Das ist eine grobe Unterschätzung der Gefahr, die von einer global vernetzten transnationalen Bewegung des Islamismus ausgeht.

Der vor 600 Jahren gestorbene islamische Philosoph Ibn Khaldun hat den Begriff der "Asabiyya" geprägt. Das bedeutet Zivilisationsbewusstsein. Und das ist dem Westen abhanden gekommen. Nach Ibn Khaldun ist die Asabiyya das Barometer des Befindens einer Zivilisation. Die Europäer stellen sich als tolerant dar, indem sie nachgeben. Toleranz ist die eine, Beliebigkeit der Indifferenz die andere Sache.

Wie ist es dazu gekommen?

Die Europäer haben ein schwaches Wertebewusstsein, die Islamisten hingegen ein sehr starkes. Die Islamisten halten Toleranz und Nachgiebigkeit für Schwäche. Es geht nicht nur um Werte, es ist auch ein Machtspiel: Je mehr die eine Seite einlenkt, desto mehr fordert die andere Seite. Dem Karikaturenstreit folgte die Auseinandersetzung um die Mozart-Oper "Idemeneo" in Berlin. Und so wird es weitergehen.

Die Niederlande galten als Musterbeispiel für Integration. Nach der Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh durch einen Islamisten ist der Ton rau geworden. Ist der liberale, offene Weg dieses Landes gescheitert?

Nein. Die Niederlande bilden – wenn auch aus bitterem Anlass – eine Ausnahme in Europa. Das Land wird offen bleiben. Aber es hat Konsequenzen gezogen. In Spanien hat es am 11. März 2004 bei dem Terroranschlag in Madrid 192 Tote gegeben. Dennoch hat sich nicht viel verändert.

In den Niederlanden hat der Tod eines einzigen Menschen ein Umdenken ausgelöst. Man gibt nicht mehr nach, Imame dürfen nicht mehr aus dem Ausland kommen. Das ist keine Politik gegen den Islam, aber gegen die islamistischen Prediger. Deutschland hat kein solches Konzept.

Wie ist denn in diesem Zusammenhang die von Innenminister Wolfgang Schäuble einberufene Islam-Konferenz zu bewerten?

Die Konferenz war eine Katastrophe und ein Selbstbetrug. Schäuble hat mit den Repräsentanten der vier zentralen muslimischen Vereine gesprochen, die vertreten aber nicht mehr als circa zehn Prozent der vier Millionen Muslime in der Bundesrepublik. Diese vier Gruppen sollen, wie die Kirchen, anerkannt werden. Mit anderen Worten: Schäuble will einen Deal machen, um einen deutschen Islam als Gesprächspartner zu schaffen. Ich setze mich für einen Euro-Islam ein, der die Werte und Normen der europäischen Zivilisation einschließt und sich nicht auf organisatorische Fragen beschränkt.

Warum wurden Sie nicht zu der ersten deutschen Islam-Konferenz eingeladen?

Das ist Politik. Da ich nachdrücklich für den Euro-Islam plädiere, dessen Werte die Muslime, die in Europa leben wollen, ohne Wenn und Aber zu akzeptieren haben, bin ich zu unbequem, ein Störfaktor, der darauf hinweist, dass ein speziell deutscher Islam keine Lösung für den Konflikt bietet.

Wie definieren Sie Euro-Islam?

Ich möchte diese Frage am Beispiel des afrikanischen Islam veranschaulichen. Der Islam kam nach Westafrika aus dem arabischen Norden. Die Afrikaner haben den Islam afrikanisiert. Im Senegal konnte ich studieren, wie diese Afrikanisierung sich vollzogen hat. Sie ist zu einem Muster geworden. Das ist keine Assimilation. Und deswegen ist die Europäisierung des Islam vergleichbar ein realistisches Projekt.

Von Ihnen stammt der Begriff der europäischen Leitkultur, den andere für sich reklamieren, ohne Sie zu erwähnen. Was ist darunter zu verstehen?

Die Idee einer europäischen Leitkultur basiert auf fünf Segmenten, die verpflichtend und bindend sein sollten:

Strikte Trennung zwischen Religion und Politik,

Bejahung der säkularen Demokratie,

individuelle Menschenrechte (wie Glaubensfreiheit, Gleichheit der Religionen und Geschlechter),

Pluralismus (alle Religionen sind gleichwertig),

Säkulare Toleranz und Zivilgesellschaft.

Entscheidend ist, dass diese Werte "gesetzt" sind, sie sind das Fundament der Leitkultur, über sie kann nicht verhandelt werden. Deshalb gehört die Türkei unter Ministerpräsident Erdogan und seiner AKP nicht in die EU; sie sind islamistisch, nicht islamisch-konservativ, wie sie sich falsch darstellen.

Sie wollen Deutschland verlassen und an der Cornell-Elite-Universität in den USA lehren. Gehen Sie im Zorn?

Nein, aber ich bin enttäuscht. Einen Islamismus möchte ich in Europa und Deutschland nicht erleben. Im Sinne meines Lehrers Horkheimer kann ich mich auch in den USA für die Insel der Freiheit Europa engagieren. Und das werde ich tun. Schließlich können nur Europäer in Zusammenarbeit mit demokratischen Muslimen verhindern, dass Europa zu einem "Schlachtfeld der Islamisten" wird.

Diese Formel stammt nicht von mir, sondern von Francis Fukuyama, der mein Konzept der Leitkultur von Amerika aus Europäern empfiehlt.