Professor Steinbach über die Abriegelung des Gazastreifens, die palästinensische Hamas und die Rolle der internationalen Gemeinschaft

Der Nahost-Konflikt ist ein Thema, das wie kaum ein anderes die Gemüter erhitzt. Professor Steinbach und die drei Gäste bezogen Position und diskutierten mit großem Engagement. Steinbach bevorzugt Klartext: Er hält die israelische Politik für falsch und gefährlich. Seine Aussagen provozieren. Er hält dem entgegen, dass Kritik an Israel nicht, wie dies in Deutschland oft geschehe, mit Antisemitismus gleichgesetzt werden dürfe.

Marion Krüger: Ägypten will auf der Sinai-Seite den Gazastreifen mit einer Stahlmauer, die bis zu 30 Meter in die Tiefe reicht, abriegeln. Wie bewerten Sie dieses Vorgehen?

Im Gazastreifen gibt es ein humanitäres Problem von ungeheuren Ausmaßen. Dass die internationale Gemeinschaft, die Araber und insbesondere der ägyptische Präsident Hosni Mubarak sich hergeben für eine Politik des Embargos, der Sanktionen und der Erniedrigung der Palästinenser finde ich empörend und unbegreiflich. Dadurch werden die Spannungen noch größer – das sollte auch Israel sehen.

Krüger: Ich habe in Ägypten sehr viel Armut gesehen und frage mich: Wie kann das Land ein solches Projekt finanzieren? Da müssen doch auch andere dahinterstecken?

Ganz gewiss! In Ägypten gibt es eine relative Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung. Wer sich mit dem Geld, wo immer es herkommt, an der Einschnürung Palästinas beteiligt, dem wird früher oder später die Rechnung präsentiert.

Krüger: Was bedeutet dieser Mauerbau langfristig?

Das wird die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft weiter schwächen. Wir haben der arabischen Welt ohnehin nicht mehr viel zu sagen. Wo sind denn unsere Werte Humanität, Menschenrechte und Demokratie? Mir kann keiner erzählen, dass Israel eine wirkliche Demokratie ist, wenn man dort Palästinenser zu Tausenden wegsteckt.

Krüger: Ich höre immer "Israel". Inwieweit sind wir Europäer und die USA in das Geschehen involviert?

Dass die Israelis, platt gesagt, ihre Spielchen spielen, kann ich noch nachvollziehen. Aber dass Deutschland, die EU und die USA bei diesen Grausamkeiten mitmachen, dafür werden wir zahlen müssen. Der nächste Krieg kommt bestimmt, und er wird schlimmer sein als die beiden vorangegangenen 2006 im Libanon und 2008/09 im Gazastreifen.

Krüger: Stichwort Siedlungspolitik. US-Präsident Barack Obama hat die Israelis aufgefordert, ihre Politik zu ändern. Es hat sich aber nicht viel bewegt, oder?

Allein die Tatsache, dass Obama die Israelis damit konfrontiert hat, ist ein Politikum, das hat sie schockiert.

Für Obama steht die Frage der Gesundheitsreform obenan, er kann nicht alles auf einmal anpacken. Die Gegner der Gesundheitsreform, also vor allem die Republikaner, und, in der Außenpolitik, die Israel-Lobby, das ist schon eine gewaltige Front.

Aber Obama hat einen riesigen Stein ins Wasser geworfen. Von Scheitern zu sprechen, wäre zu früh.

Naser Al-Natsheh: Der Begriff Siedlung verdeckt, dass es um Kolonisierung geht. Die Siedlungen entstehen auf besetztem Gebiet. Gibt es überhaupt noch Chancen für Frieden?

Jeden Tag nehmen die Chancen für eine Zwei-Staaten-Lösung ab. Wenn es jetzt nicht zu einem Siedlungsstopp im Westjordanland kommt, sollten wir über die Alternative nachdenken: die Ein-Staat-Lösung. Was meine Skepsis noch erhöht, ist die Tatsache, dass der israelische Premier Netanjahu zwar einen auf 10 Monate befristeten Siedlungsstopp angekündigt hatte, aber in Jerusalem wird unvermindert weitergebaut. Das ist absolut völkerrechtswidrig. Und es markiert einen entscheidenden Punkt: Die Zwei-Staaten-Lösung ist nur tragfähig, wenn Ostjerusalem zur Disposition steht für die Palästinenser.

Krüger: Ich sehe die Palästinenser bei der Ein-Staat-Lösung allerdings deutlich benachteiligt...

Über eine solche Lösung wird verhandelt werden müssen, sie kann kein Diktat sein. Ich bin überzeugt, dass die Palästinenser sich von der Zwei-Staaten-Lösung verabschieden, weil sie in der Ein-Staat-Lösung die größere Chance sehen, irgendwann eine Mehrheit zu sein und Verantwortung zu übernehmen.

Natsheh: Von den rund elf Millionen Palästinensern lebt mehr als die Hälfte im Exil, zumeist unter miserablen Bedingungen in Lagern im Libanon, in Jordanien oder Syrien. Muss es nicht ein Rückkehrrecht geben?

Wenn es zur Ein-Staat-Lösung kommt, gelten bestimmte Regeln für alle oder keinen. Das heißt: Die jüdische Seite muss von der Idee Palästinas als Heimstätte aller Juden Abstand nehmen, die Palästinenser können nicht in unbegrenzten Zahlen zurückkehren; sie müssen in den Ländern, in denen sie leben, den Status gleichberechtigter Bürger erhalten.

Natsheh: Das halte ich nicht für fair gegenüber den Palästinensern.

Die historische Dimension macht die Problematik unendlich kompliziert. Wir sollten uns bescheiden und mit den Tatsachen beschäftigen, wie wir sie vorfinden.

Natsheh: Wie bewerten Sie, dass Deutschland U-Boote, die Nuklear-Waffen abfeuern können, an Israel liefert?

Das ist unerträglich und widerspricht der Maxime, keine Waffen in Spannungsgebiete zu exportieren. Das ist auch nicht mit unserem Interesse an der Sicherheit Israels zu rechtfertigen.

Natsheh: Mehr als 10 000 Palästinenser befinden sich in israelischen Gefängnissen, auf palästinensischer Seite geht es um einen einzigen gefangenen Soldaten: Gilad Schalit. Dennoch wird nur über diesen Fall berichtet. Was sind die Gründe?

Weil wir einer Illusion unterliegen, der wir uns gerade anlässlich des 60. Geburtstages Israels hingegeben haben, derzufolge dieses Land die einzige Demokratie im Nahen Osten ist. Das ist es nicht, aber diese Realität blenden wir aus. Unabhängig davon würde ich die Hamas auffordern, Schalit umgehend freizulassen.

Natsheh: Glauben Sie, dass das Palästina-Problem ein Herd für viele andere Konflikte und auch Anschläge darstellt?

Ganz gewiss. Die doppelten Standards, die die internationale Gemeinschaft anwendet, werden von intelligenten Leuten durchschaut. Das macht sie zornig. Die "Straße" geht auf die Straße, die Intelligenten suchen nach einer Strategie des Widerstands – und das ist der Terror.

Stefan Göpke: Sind Sie der Meinung, dass Hamas und Hisbollah zu recht als Terrororganisation eingestuft werden?

Ich bin definitiv nicht der Ansicht, dass es sich bei Hamas um eine Terrororganisation handelt.

Göpke: Und Hisbollah?

Das ist eine andere Sache. Jetzt reden wir über Hamas. Die Israelis haben Hamas über Jahre als Gegenpol zur Fatah und PLO Jassir Arafats unterstützt. Meines Wissens nach hat es in den 90er Jahren nicht einen einzigen Anschlag gegeben, an dem die Hamas beteiligt gewesen wäre. Dann, nach 2000, als alle Felle davongeschwommen waren, sind Elemente in der Hamas, nicht die Hamas, dazu übergegangen, dem Trend zu folgen und den Islam auch militant auszulegen. Der Islamismus hat Konjunktur, wir dürfen das nicht als islamisches Problem sehen.

Göpke: Lenkt die Fokussierung auf die vermeintliche humanitäre Katastrophe im Gazastreifen nicht davon ab, dass Hamas und Hisbollah die Vernichtung Israels postuliert haben und nicht friedensfähig sind?

Die Palästinenser sind am Friedensprozess interessiert, nur müssen sie auch beteiligt werden. Ein Beispiel ist der israelische Rückzug aus dem Gazastreifen, wo man die Chance verpasst hat, Palästinenserpräsident Abbas einzubinden und aus dem Rückzug den Beginn eines israelisch-palästinensischen Verhandlungsprozesses zu machen.

Göpke: Warum gibt es auf palästinensischer Seite nicht die Forderung an die eigene Adresse: sofortiger Gewaltverzicht?

Wenn der Staat Israel ständig Gewalt ausübt...

Göpke: Gandhi, Beispiel Gandhi!

Und jedes Jahr 2500 Siedlungseinheiten mehr, 10 000 Leute in Gefängnissen, Schikanen an Durchlass-Punkten. Wir müssen über Gewalt sprechen, auf beiden Seiten.

Göpke: Meine Frage bezieht sich explizit auf palästinensische Gewalt. Warum kann man nicht dem Beispiel Gandhis folgen? Da wurde, egal was die Engländer unternahmen, ohne Gewalt geantwortet.

Weil Gandhi wusste, dass England ein zivilisiertes Volk ist, das Gewaltfreiheit versteht. Diejenigen, die weiter siedeln, sind nicht zivilisiert.