Reportage: In der Westbank, hinterm Zaun, hoffen die Palästinenser auf Besucher, die nicht nur ein paar Stunden bleiben

Ein junger Mann mit Pistole, eine erschöpfte Tourismusministerin, ein leiser Geheimdienstchef – Eindrücke von einer Reise nach Israel und in die besetzten Gebiete.

Um 5.45 Uhr geht die Sonne über dem Ölberg auf. Die goldene Kuppel des Felsendomes glänzt nun, die ersten Strahlen wärmen die Luft. Auf dem Dach gegenüber dem Lutherischen Hospiz mitten in der Altstadt schlendert ein junger Mann, fast ein Jugendlicher, mit der Pistole in der Hand. Er läuft hier Streife und sichert die jüdischen Häuser und Thoraschulen, die sich längst bis tief in das moslemische und christliche Viertel ausgebreitet haben.

Mit Millionenaufwand kaufen vorwiegend US-amerikanische Investoren Haus für Haus von den arabischen Eigentümern. Oft bieten sie Preise, die die nach jahrelangen Streiks und Unruhen wirtschaftlich geschwächten Palästinenser kaum ausschlagen können.

Zudem, so erzählt es jedenfalls der deutsche lutherische Propst Uwe Gräbe, werden die Kaufverträge oft erst nach dem Tod des Eigentümers wirksam. So muss er die Ächtung durch seine Nachbarn nicht mehr miterleben, wenn wieder mal ein Palästinenser den Juden ein Haus übergeben hat, um seine Familie für die Zukunft abzusichern.

Dabei geht es den Palästinensern im von Israel annektierten Jerusalem noch gold. Die Suks sind wieder voll, das israelische Tourismusministerium frohlockt über neue Rekordzahlen an Besuchern. Sie übertreffen sogar die bisherigen Spitzenwerte aus dem Jahr 2000. Doch mit dem Millenniumswechsel kommt auch die zweite Intifada, und der Tourismus bricht wieder ein, wie es schon einmal nach der ersten Intifada im Jahr 1987 geschehen ist.

Von Unruhen, von Anschlägen, von all der Unsicherheit der vergangenen Jahre ist auf den ersten Blick nichts zu spüren. Die jungen Frauen an den Checkpoints sind Angestellte privater Sicherheitsfirmen, sie kichern angesichts fremder Pässe und ungewöhnlicher Reisewege, die eine Besuchsgruppe aus Braunschweig nehmen mag.

In dezenter Entfernung schiebt ein israelischer Soldat Wache. Das hat mit den martialischen Auftritten vergangener Jahre wenig zu tun, und selbst die oft lästigen Sicherheitsbefragungen an den Flughäfen sind lockerer und wohl auch professioneller geworden.

Khouloud Daibes ist eine charmante Frau in den besten Jahren, ihr Deutsch ist gewinnend, sie hat zehn Jahre in Hannover studiert, Architektur und Denkmalpflege. Seit 15 Monaten ist sie Tourismusministerin der palästinensischen Autonomiebehörde und eine glänzende Botschafterin ihres Landes, wenn man die unzusammenhängenden Gebiete unter Selbstverwaltung überhaupt so bezeichnen kann.

Aber sie ist müde: "Es ist unsere letzte Chance, aber viele geben auf, und ich kann es verstehen. Viele haben diese Kraft nicht mehr." Der Exodus der gut ausgebildeten Palästinenser, vor allem der Christen, ist ungebrochen.

Sie, die römisch-katholische Christin, stammt aus Jerusalem, ihr lutherischer Mann Suleiman aus dem Städtchen Beit Jala nahe Bethlehem. Sie hat eine Aufenthaltsgenehmigung für Jerusalem, er für die Westbank. Sie unterhalten Wohnungen in verschiedenen Kontrollgebieten, um schon abends die langwierigen Checkpoint-Formalitäten hinter sich zu bringen, wenn am nächsten Morgen wichtige Termine sind.

Unter solchen Umständen würde in Europa nicht mal eine Bürobote bei einem Ministerium arbeiten. Hier aber ist es die Chefin.

"Wir leben in einem offenen Gefängnis", benennt es trocken der stellvertretende Bürgermeister von Bethlehem, George Saadeh.

Die Mauer – außerhalb der Städte ist es ein Zaun – zerteilt Straßen, Stadtteile, Dörfer, Äcker. Es kommt zu kuriosen Verläufen rund um ein Haus, das auf diese Weise nahezu unbewohnbar wird.

"Ich bin ein Berliner", hat ein Witzbold auf Deutsch auf die Mauer gemalt. Künstler verzieren die massiven Betonteile mit den Porträts Unbekannter. Die Palästinenser haben, bei aller Gewalttätigkeit der Extremisten, immer auch einen ironischen, reflektierten Umgang mit der Besatzung gepflegt. Der Humor ist ihnen nicht vergangen.

Die israelischen Offiziellen haben ein schlagendes Argument für die Mauer: Seit ihrer Errichtung ist die Zahl der Anschläge dramatisch zurückgegangen.

In einer Region, in der Friedenspläne Halbwertzeiten von wenigen Tagen haben, ist das eine harte Währung. Die Palästinenser wissen das. "Zäune machen gute Nachbarn", lautet das Motto. "Aber nicht, wenn der Nachbar nicht mehr von der Küche ins Wohnzimmer kann", kontert Thomas Birringer, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in den Palästinensischen Autonomiegebieten.

Oder, wie es Khouloud Daibes anschaulich macht: "Es gibt Jugendliche, die haben noch nie das Mittelmeer gesehen." Keine Frage: Der Friedensprozess seit den Geheimverträgen von Oslo hat die Lebenssituation der Menschen in der Westbank nicht leichter gemacht. Das nutzt vor allem der Hamas.

Die Mauer hat auch ihre Toten. Im winzigen Hospital auf den Hirtenfeldern in Beit Sahour erzählt der Klinikdirektor, dass bei akuten Fällen Krankenhäuser in Jerusalem angesteuert werden müssen.

Die Ambulanzen stecken dann aber am Checkpoint fest. Herzinfarktpatienten oder entbindende Frauen mit Geburtskomplikationen kann das leicht das Leben kosten.

Rettungshubschrauber? Trockenes Lachen. Das einzige, was hier in der Luft fliegt, sind israelische Aufklärungsmaschinen – oder Bomber.

Die Palästinenser, wenn denn von diesem stolzen Volk so pauschal die Rede sein kann, sind an der Lage nicht unschuldig. "Wir haben Fehler gemacht", sagt leise der Geheimdienstchef, der sich zu den deutschen Gästen setzt und nur zögerlich zu reden beginnt.

Er, der PLO-Mann, schließt für die Westbank eine Entwicklung wie im Gaza-Streifen aus. Hier kann die Hamas, da ist er sich sicher, nicht so einfach wie dort die Macht übernehmen. "Wir wollen die Präsenz in den Autonomiegebieten ausweiten, und wir haben die Kapazität und den Willen, die Sicherheit zu gewährleisten."

Das klingt aus dem Munde eines Sicherheitschefs bedrohlich. Und doch wünschen sich die Palästinenser nichts sehnlicher als Ruhe und Ordnung. Das sagen die Mitglieder der Handelskammer, Ärzte, Lehrer und Politiker unisono. Sie wollen ihren Geschäften nachgehen können, um nicht mehr auf Almosen aus aller Welt angewiesen zu sein. Größte Hilfsorganisation ist, Ironie der Geschichte, die amerikanische Entwicklungshilfe US-Aid.

Khouloud Daibes sagt drastisch: "Wir brauchen kein Geld, wir brauchen Frieden." Damit Gäste nach Bethlehem kommen und dort auch übernachten und nicht nur einen Tripp für wenige Stunden in die Geburtskirche unternehmen.

Die Hotels in der Stadt waren immer auf", erzählt sie stolz, und darin schwingt ein Vorwurf mit. Ein Besuch in den besetzten Gebieten – das nehmen die Gastgeber mehr als politische Solidaritätserklärung denn als wirtschaftliche Unterstützung wahr. Khouloud Daibes Traum ist ein Besuch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel – mit einer Übernachtung in Bethlehem.

Der verzweifelte Versuch der Palästinenser, ein kleines Stückchen vom großen Kuchen des Tourismus abzubekommen, treibt dabei auch kuriose Blüten. Die Seilbahn, die in der Oase Jericho zum Bergkloster der Versuchung Christi führt, schmückt sich mit einem Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde: "Längste Seilbahn unter dem Meeresspiegel".

Offenbar ist die israelische Schwesterbahn, die einige Dutzend Kilometer weiter südlich zum Nationalheiligtum, der Festung Masada, führt, ein paar Meter kürzer.