Auf dem Campus Forschungsflughafen: Wie in Braunschweig die Luftfahrt der Zukunft erdacht und entwickelt wird

Wenn der Spezialist Simon Rüdiger über "innovative Hochauftriebssysteme" spricht, dann hagelt es nur so von "Auftriebsbeiwerten" und "Blattspitzenmachzahlen".

Dabei handelt es sich jedoch nicht um die neuesten Konjunkturdaten oder eine bislang unbekannte Pflanzenkrankheit, sondern um künftige Sensationen der Luftfahrt.

Was der Braunschweiger Flugantriebs-Forscher da berichtet, lässt Fachleute schon jetzt mit der Zunge schnalzen. Wir hören ihnen diesmal zu, lange bevor sie fertige Entwicklungen präsentieren.

Wir horchen praktisch an der Labortür. Drinnen entsteht gerade nichts geringeres als das Flugzeug der Zukunft, das sogenannte "bürgernahe Flugzeug".

Nicht weniger als 17 Institute der TU Braunschweig, des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und der Uni Hannover arbeiten gerade gemeinsam daran. Der Braunschweiger Forschungsflughafen ist ihr Campus.

Es ist eines der ehrgeizigsten Forschungs- und Entwicklungsprojekte, die es derzeit in der Luftfahrt gibt. In Braunschweig wird ein Flugzeug entwickelt, das kaum noch Krach macht, viel weniger Landebahn benötigt und kaum noch stört.

Einstweilen befindet sich dieser Traum-Vogel allerdings noch in den Köpfen von mehr als 100 Leuten wie Simon Rüdiger. Von da geht es aufs Papier und in den Computer, in die Berechnungen und umfänglichen mathematischen Simulationen.

120 Passagiere, Start und Landung in Stadt-Nähe

Nächstes Jahr wollen sie einen vollkommen neuartigen Flugzeugflügel bauen und als Modell in einen neuen Windkanal stellen.

Denn am Braunschweiger Forschungsflughafen ist derzeit buchstäblich alles neu. Mit dreistelligem Millionenaufwand entsteht endgültig ein europäisches Schwergewicht in der Luftfahrtforschung.

Bis zum Erstflug eines "bürgernahen Flugzeugs" dürften zwar noch 20 Jahre vergehen, aber das Projekt treibt schon heute in rasantem Tempo die Forschung an. Bereits früher können Neu-Entwicklungen in existierenden Flugzeugtypen zum Einsatz kommen.

Das spektakuläre Hochauftriebssystem, das Simon Rüdiger vorschwebt, dürfte allerdings zunächst kaum dazugehören.

Das muss man sich etwa so vorstellen: Das neue Flugzeug mit vielleicht 120 Passagieren rollt nur kurz an, bekommt sehr schnell Auftrieb – und entschwebt in Rekordzeit den Blicken. Dafür sorgt eine speziell entwickelte Auftriebs-Kombination zwischen Hochleistungs-Propeller – sechs Meter Durchmesser, neun Blätter –, Propellergondel, Flügel und Klappe.

Die Anordnung ist so berechnet, dass der sogenannte Coanda-Effekt genutzt werden kann. Dieses bisweilen geheimnisumwobene physikalische Phänomen, das in Science-Fiction-Romanen gern die positiven Start- und Landeeigenschaften von Ufos beschreibt, ist ein Leckerbissen für Forscher.

Allerdings ist es für den Laien eher unverdaulich. Tatsächlich können Flüssigkeiten oder Gase (wie Luft) unter bestimmten Umständen ungewöhnliche Eigenschaften entwickeln, wenn sie einen Körper umströmen.

Sie können dann ihre ursprüngliche Richtung ändern und fließen bis zu einem bestimmten Punkt an dem Körper entlang. Man kann diesen Effekt sehr schön beim Waschen eines Apfels unter dem Strom eines Wasserhahns beobachten.

Und man kann ihn nutzen, um beim Fliegen extreme Auftriebseigenschaften zu gewinnen. Dies ergibt sich beim Zukunfts-Flugzeug aus einem überaus komplizierten Arrangement zwischen Propeller, Flügel und Auftriebsklappe, aerodynamische Wechselwirkungen und Synergie-Effekte mithin, die mit neuartigen Klappen-Schlitzen zum Ausblasen der Luft noch zusätzlich angefacht werden.

Dieses High-Tech-Mobile wird derzeit in Hochleistungscomputern berechnet – Konstruktion und Bau eines Modells für den Windkanal schließen sich an. Es ist in diesen Dimensionen weltweit Neuland in der Experimentaltechnik, weitere Aspekte wie Lärm und Materialbeanspruchung inklusive.

Ein Jahr nach dem Start des Projekts gibt Simon Rüdiger, Diplom-Ingenieur des Pfleiderer-Instituts für Strömungsmaschinen der TU Braunschweig, seinen ersten Bericht. Weitere vier Jahre in der ersten Projektphase sollen folgen.

Super-Leichtbau, Satelliten, künstliche Intelligenz

Es ist nur ein Aspekt der umfänglichen Forschung am bürgernahen Flugzeug, den wir hier herausgreifen können. Weitere folgen – die besonderen Super-Leichtbaustrukturen des Zukunft-Fliegers, seine Führung durch Satelliten-Navigation, die Teil-Ablösung des Piloten im Cockpit durch künstliche Intelligenz.

Dies ist in der Summe derzeit eines der spannendsten Technik-Themen überhaupt – und die Handlung spielt in Braunschweig.

Im Resultat soll die Start- und Landebahn der Zukunft übrigens nur noch eine Länge von 800 Meter benötigen, ein paradox anmutendes Faktum gerade am Braunschweiger Forschungsflughafen, wo die Piste gerade auf das annähernd Dreifache verlängert wird.

Es verdeutlicht jedoch, dass gerade diese Forschung Flughafen-Wirkungen verträglicher macht.

Im Ergebnis indes könnten Airports in wenigen Jahrzehnten wieder dichter an die Städte heranrücken, warum auch nicht, wenn es Flugzeuge geben sollte, die kaum noch stören. Aber kontrovers diskutiert werden wird gewiss auch dies – wie überhaupt die Entscheidung zu treffen ist, welcher Fortschritt es ist, den wir selbst gestalten wollen.