Justizministerin Heister-Neumann sagt Ja zu Prävention und Täterbetreuung, setzt aber andere Schwerpunkte

Sabine Kanacher (Strafrichterin beim Amtsgericht Wolfsburg): Die neue Landesregierung will laut Koalitionsvereinbarung die Funktionsfähigkeit der Gerichte und Staatsanwaltschaften stärken. Dann wurde ein sofortiger Einstellungsstopp beschlossen – auch für Gerichte und Staatsanwaltschaften. Wie soll dann die Funktionsfähigkeit gestärkt werden?

Der Einstellungsstopp ist eine Konsequenz der Finanzlage. Die Funktionsfähigkeit der Justiz sichern wir deshalb nicht durch Neueinstellungen. Wir konzentrieren uns auf die Kernaufgaben der Justiz und beschleunigen die Verfahren. Durch diese Beschleunigungen können wir Kapazitäten bei den Richtern freisetzen. Mehr Personal kann ich nicht versprechen. Ohne Veränderungen der Aufgaben darf es aber auch keinen Stellenabbau in der Justiz geben. Das sage ich genauso klar.

Sabine Kanacher: Was sind für Sie denn die Kernaufgaben?

Zu den Kernaufgaben gehört zum Beispiel nicht die Führung des Handeslregisters bei den Gerichten. Das könnten beispielsweise die Industrie- und Handelskammern machen. Auch im Vollstreckungswesen denken wir darüber nach, ob die Gerichtsvollzieher nicht als Freiberufler arbeiten könnnten.

Sabine Kanacher: Sie sprechen von beschleunigten Verfahren. Diese Möglichkeiten sind ja im Gesetz schon vorhanden. Ein Angeklagter kann innerhalb von 24 Stunden zum Termin geladen werden. Gerade in Wolfburg gibt es ja die große KfzKriminalität osteuropäischer Täter. Es hapert aber am Personal. In Wolfsburg haben wir 12,5 Richterstellen, aber gemessen an den Fallzahlen Arbeit für 19 Richter. Ein Strafrichter sollte 500 Verfahren im Jahr machen, wir kommen auf knapp 800. Wir haben daher kaum die Möglichkeit, beschleunigte Verfahren zu machen. Die Aktenberge stapeln sich.

Es geht ja nicht nur um die Zahl der Richter, sondern auch darum, wie die Verfahrensbeteiligten zusammenarbeiten. Ich habe mir das kürzlich in Leer und Aurich angesehen. Die Staatsanwaltschaft hat mir gesagt, dass die beschleunigten Verfahren bei den Richtern zunächst auf große Widerstände stoßen. Das bedeute noch mehr Aufwand. Aber wenn man diese Möglichkeit nutzt, wo es sich anbietet, gehen die Fallzahlen insgesamt zurück. Die Arbeitsbelastung für Sie wird durch beschleunigte Verfahren auf absehbare Zeit nicht sinken, aber die Zahl der erledigten Verfahren wird steigen.

Günter Koschig (Fachbeirat Prävention des Bundes, Leiter Außenstelle Goslar des Weißen Rings): Ich hoffe, dass Sie den Präventionsgedanken in Ihrem Haus weiter fördern, trotz aller Engpässe. Nun zu einem Kernthema. In Deutschland kann sich der Zeuge einer Straftat noch immer nicht ohne Risiko an die Polizei wenden. Die Zivilcourage, die wir einfordern, ist nicht ganz ohne Risiko. Es gibt Fälle, in denen Zeugen und Opfer bedroht werden. Das betrifft nicht nur den Bereich organisierter Kriminalität. Hier muss der Staat mehr tun. Opfer von Straftaten müssen beraten werden, es muss ein Entschädigungsgesetz geben. Es ist einiges passiert, aber das reicht nicht.

Die Arbeit des Weißen Rings habe ich immer bewundert. Ich bin selbst Mitglied, eine Kriminaldirektorin in Wolfsburg hat mir das mal nahe gebracht. Ich bin übrigens noch in einem zweiten Verein Mitglied: bei den Landfrauen. Wenn Sie deren Aufgabenfeld einmal genau beleuchten, werden Sie sehr schnell feststellen, welchen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag diese auch zur Prävention im ländlichen Raum leisten. Das gilt natürlich auch für viele andere Vereinigungen, auf sportlicher Ebene ebenso wie auf kulturellem Gebiet. Klar ist, dass Prävention und die Arbeit des Präventionsrates fortgeführt werden, auch wenn wir die Mittel im Einvernehmen kürzen mussten. Der Landespräventionsrat ist im übrigen nicht zufällig beim Justizministerium angesiedelt, auch wenn Polizei und Innenministerium unstreitig große Verdienste um das Thema haben. Wir werden die Präventionsarbeit durch die weitere Einbindung von Ehrenamtlichen unterstützen. Dazu ist es hilfreich, wenn auch Richter mitwirken. Die sind hierzu eher bereit, wenn sie wissen, dass die Präventionsidee vom Ministerium getragen wird.

Günter Koschig: Kann das Land mehr für den Zeugenschutz tun? Sie müssen vor allem mit den Daten sensibler umgehen. Man ist nicht sehr erfreut, wenn man am Telefon oder persönlich bedroht wird. Auch in Gerichtssälen ist die Atmosphäre nicht immer entspannt.

Beim Zeugenschutz kann ich Ihnen nur Recht geben. Das Problem im Hinblick auf die Bedrohung sehen wir auch. Wir überlegen deshalb, ob nicht die Daten von Zeugen und Opfern getrennt von den anderen Prozessakten aufbewahrt werden können. Den Anwälten würden die Angaben nur dann zugänglich gemacht, wenn sie ein besonderes Bedürfnis nachweisen können. Aber entschieden ist noch nichts.

Günter Koschig: Auch das Gesetz gegen Gewalt in der Familie wird noch nicht so umgesetzt, wie sich die betroffenen Frauen das erhoffen. Es gibt landesweit sechs Beratungsstellen, Goslar beispielsweise wurde für die Arbeit von Ihrem Vorgänger gelobt. Es müste die Beratung aber flächendeckend geben. Wenn wir den Kreislauf der häuslichen Gewalt durchbrechen wollen, gerade auch für die Kinder, dann brauchen wir dazu mehr Hilfe der Justiz.

Die von Ihnen genannten sechs "BISS"-Stellen unterhält das Sozialministerium, die Justiz flankiert deren Arbeit durch ihre elf Opferhilfebüros. Ein schwieriges Feld, wie ich aus eigener Arbeit weiß. Als ich früher in einer Kanzlei arbeitete, sprach auch eine Frau vor, die offensichtlich misshandelt worden war. Ich habe erstmal Fotos zum Beweis gemacht, so aufgewühlt war ich. Am nächsten Tag war die Frau trotzdem wieder bei ihrem Mann. Das Drama wiederholte sich regelmäßig. Irgendwann war ich nicht mehr in der Lage, mich mit dieser Frau auseinanderzusetzen. An diese Menschen heranzukommen, ist oft sehr schwer. Da bestehen Abhängigkeitsverhältnisse...

Günter Koschig: Das ist genau der Punkt. Da sagen viele, da hab ich mich nun voll reingehängt, und morgen sitzt die wieder mit dem Mann auf der Parkbank. Das steckt aber in nicht wenigen Fällen die Bedrohung dahinter, auch finanzielle Abhängigkeiten, Kinder. Wir müssen allen Beteiligten vermitteln, dass die Entscheidung letztlich die Frau trifft.

Henning Voß (Leiter der Anlaufstelle für Straffällige "Cura"): Unsere Hauptaufgabe ist die Nachbetreuung von Haftentlassenen. Das ist die beste Prävention. Sind Resozialisierung und Nachsorge ein ernstes Anliegen für Sie, oder geht es mehr in Richtung Null Toleranz?

Es gab Zeiten, da standen Täterbetreuung und Resozialisierung absolut im Vordergrund. Das ist bei mir nicht der Fall. Auch im Vollzug hat für mich die Sicherheit der Opfer vor weiteren Straftaten absoluten Vorrang, auch vor Hafterleichterungen. Das Thema ist aber vielschichtig. Wir lagern ja keine Pakete ein. In den Gefängnissen sitzen Menschen ein, die Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Wir müssen auch menschenwürdig mit ihnen umgehen. Da gibt es in den Strafanstalten sicher noch einiges zu tun. Die Überbelegung beispielsweise ist für die Gefangenen und die Mitarbeiter schlecht. Sie erhöht Sicherheitsrisiken, sie verschlechtert die Chancen auf Arbeit, Bildungs- oder Therapieangebote. Die Leute werden ja eines Tages entlassen und haben dann schlechte Karten. Wie schwierig es für Ex-Gefangene ist, heutzutage Arbeit zu finden, kann man sich ja leicht vorstellen. Ihre Aufgabe, Herr Voß, ist daher extrem wichtig und gewiss nicht leicht. Aber im Vordergrund steht die Sicherheit der Bevölkerung.